„Medienschlange“
im verlorenen Kinderparadies

Eine etwas poetische Zeitzeugenreise

Inge Böffgen, Gerolstein

Es war einmal... als nach dem 2. Weltkrieg die Kinder in Deutschland noch überwiegend in ein armes, doch zeitlich gemütliches Leben hineingeboren wurden. Die Chancengleichheit in der Gesellschaft hielt sich lange im solidarischen Gleichmaß und sie erleichterte den heranwachsenden Sprösslingen den sozialen Zusammenhalt ohne großes Anspruchsdenken. Die kindlichen Spielwelten waren ein bunter Flickenteppich aus Fantasie und Kreativität, trotz und gerade wegen der durchgängig schlichten Mittel. Das Für- und Miteinander war kommunikativ und initiativ. Rückblickend interessant zu sehen, ist die grundsätzliche Unterscheidung der Spielzeugarten von Mädchen und Jungen in Bezug auf ihre spätere Rolle in der Gesellschaft.
Während bei Mädchen ein wachsendes Puppenarsenal samt Zubehör zur Standardausrüstung zählte, erfreute sich das „typische“ Jungenherz hauptsächlich über Metall- und Holzbaukästen, über Autos unterschiedlichen Materials und Größe. Das Spieleangebot für Mädchen betonte und lancierte vor allem die sozial-soziologische Komponente. Der Spielesektor der Jungen entwickelte sich gegenläufig, war technisch modern und förderte naturwissenschaftliche Begabungen. Gleichwohl schätzten Jungen wie Mädchen vom frühen bis
ins spätere Alter eine kritische Auseinandersetzung mit Sagen und Märchen, die die individuelle Vorstellungs- und Urteilskraft erschlossen. Licht ins Dunkel der weiblich/männlichen Rollenstrukturen brachten jedoch gemeinsame Aktivitäten wie Ball- und Versteckspiele, Seilspringen, Klickerspiel, Schlitten- und Rollschuhfahren, Laufen oder Klettern.
Hier maßen sich die Geschlechter im freien Wettkampf und förderten versteckte Charaktermerkmale zu Tage. Da wurde so manches Mädchen zum „Räuberhauptmann“ und mancher Junge zu Mutters „Sorgeneimer“. Besondere, spielverlockende Rahmenbedingungen nutzten Kinder die in Nachbarschaft
eines fließenden Gewässers oder eines Sees aufwachsen durften. Sie erlebten hautnah den Jahreszeitenwechsel mit seinen Freizeitvergnügungen wie Schwimmen, Boot- und Floß fahren oder Eislaufen. Unbeschwert bildeten sie sich dabei im Erkunden der Wasserwelt und konnten sich in einer speziellen Abenteuerlust, gepaart aus Mut und Angst, erproben. Die im doppelten Sinne „bereichernden“ Höhepunkte in einem noch wunderbar unaufgeklärten Jahreszyklus waren natürlich die christlich-gesellschaftlichen Großereignisse wie Weihnachten und Ostern. Vor allem Weihnachten mit seinen beliebten Vorboten St. Martin und St. Nikolaus mit oder ohne Knecht Ruprecht wurden voller Vorfreude und einer gelegentlichen Gänsehaut erwartet.
Zum Fixpunkt glücklichen Erlebens vor der streng geregelten Fastenzeit mit der Endstation Ostern gehörte auch das Karnevalstreiben, wo Jungen und Mädchen ihre Wunschidentität mit den Mit
teln der Verkleidung annehmen durften - welch ein Spaß! Eine jeweils tief sitzende Erwartungsfreude, wozu selbstverständlich auch die Dorfkirmes mit ihren bescheidenen „Köstlichkeiten“ wie Wundertüte oder Schiffschaukel zählten, markierte eine bescheidene und meist fröhliche Kinderwelt.
Nun, es war einmal ... und es klingt nach leisem Bedauern, doch der Zeiten Anspruch ist der Wandel - und kein Wandel ohne Übergang und Fortschrittsglaube! Im Rad der Zeit wuchs ein nie gekanntes, von großer Hoffnung geprägtes Lebensgefühl zu einem bestaunten und durchaus faszinierenden Medienzeitalter heran. Überlieferte, gewachsene Wertvorstellungen wichen einem „Alles- ist- Mach-bar-Gefühl“ und ließen kaum Zweifel zu.
Vor allem das medientechnisch weltumspannende wie schnelllebige Entwicklungstempo forderte und forciert unaufhörlich eine flexible, gesamtgesellschaftliche Anpassung an den sogenannten Fortschritt. Vergleichbar einer unaufhaltsamen Revolution eroberte dieser schnell und zielorientiert selbstverständlich auch die Kinderzimmer. In einem ehemals fantasiebesetzten und kreativen Kinderparadies erwachte kraftvoll eine schimmernde, verführerische Schlange, die mit begehrlich wachsenden, schier unerschöpflichen Möglichkeiten des Begeisterns, Einlullens und Manipulierens schon früh ihre jüngsten Anhänger rekrutierte. Dem aktiv lebendigen Gestaltungswillen früherer Spiel-Generationen folgte die lustvoll-passive Hingabe an eine genussreich-mühelose Medienwelt, die vielfach an der Oberfläche lenkt und denkt.
Die „Moderne Kinderwelt“ -eine gefräßige Medienschlange, die ein verlorenes Kinderparadies in ein gehäutetes, konturenloses Freizeitparadies verwandelte. Sie züngelt schmeichelnd weiter auf einem beschleunigten, leicht beängstigenden Weg in die Zukunft.