Was junge Leute interessiert

Drei rote Bälle

Annemarie Folgnandt, Lissendorf

Letzten Sommer begegnete mir der dritte dieser Bälle. Als ich mich auf dem Brunnenplatz in Gerolstein auf eine Bank setzen wollte, stach mir seine rote Farbe in die Augen. Er lag etwas versteckt im Buschwerk. Gleich hob ich ihn auf und schaute ringsum nach dem Kind, das ihn verloren hatte. Doch es gab nur zwei älteren Herren auf der Bank gegenüber, und ein paar Jugendliche, die lachend vorübergingen. Also ließ ich ihn ein Stückchen weiter rollen, bis in die Nähe des Brunnens, dort würde er sicher gefunden werden. Denn was sein solcher Ball für ein Kind bedeutet, das wusste ich doch aus eigener Erfahrung. Als Achtjährige hatte ich mir einen solchen roten Ball sehnlichst gewünscht, ich bekam ihn auch - aber nur in einer phantasievollen Erzählung meiner Schwester. Denn 1947 war eins der bitteren Notjahre nach dem Krieg. Ein Kind durfte keine Ansprüche stellen, und als Kind wusste man das sehr genau. Ich wusste aber auch, dass wir in einer noch glücklichen Lage waren, denn einige Hühner, ein Schwein und drei Ziegen halfen uns alles durchzustehen. Wir Kinder halfen mit, so
gut wir konnten, darum war unsere Spielzeit sehr knapp bemessen. So ging’s jeden Tag nach Schule und Mittagessen mit den Ziegen in den Heiligenstein. Dort im Wald waren die Bombentrichter mit jungem Grün bewachsen, das schmeckte den Tieren gut. Solange sie grasten und in Sichtweite blieben, was meist nicht lange anhielt, konnten meine Schwester und ich auf Baumstümpfen sitzend unsere Hausaufgaben machen. Nie machte ich sie daheim so schnell. Denn sobald wir im Wald damit fertig waren, erzählte meine Schwester mir Geschichten. Aber auf eine ganz besondere Art, bei der ich mitwirken musste. Darum konnte ich selbst den Geschichten immer eine Wendung geben, die mich am Ende so richtig froh machte. Meine Schwester fing etwa so an:
„Es klingelt bei uns an der Haustür. Wer mag das sein? Du siehst doch, ich bin grade beim Spülen, habe nasse Hände, guck du mal wer das ist!“ und ruft nach einem Moment: „Annemie, wer ist das denn?“ Ich rufe zurück: „Es war der Paketbote!“ Meine Schwester darauf: „Ja, ich habe die Männerstimme gehört und ein Knistern, hater denn was gebracht?“ „Natürlich, ein groooßes Paket, was denn sonst!“ „An wen denn, mach doch nicht so langsam, du kannst doch lesen!“
„Das Paket ist für mich ganz allein und ich habe es schon fast auf. Aua, ich habe mir an der Kordel wehgetan.“ „Hier, nimm doch das Brotmesser aus der Spülschüssel oder soll ich in den Flur kommen und es dir aufmachen?“ „Nein, spül weiter, das Paket ist an mich und ich mache es selbst auf, nicht immer du, nur weil du fünf Jahre älter bist als ich.“ „Hast du denn gelesen, von wem es ist?
„Klar habe ich das, es kommt aus Lamprecht in der Pfalz, es ist von Tante Maria!“ „Wie schön, ein Paket von Tante Maria. Hast du es denn endlich auf?“ „Ja, warte doch. Da ist etwas in wunderschönes weißes Papier eingewickelt, weißt du, so wie meine Taufkerze im Karton eingewickelt ist, so was.“ „Sind es denn Schuhe, oder ein Kleid?“ „Nein, es ist was Rundes, es ist ein Ball! Ein wunderschöner glänzender roter Ball!“ „Ist für mich was im Paket?“ „Nein, für dich ist nichts drin! Aber Moment mal, da liegt ja noch ein Zettel. Ich lese den mal grad vor: ‚Für Annemie mit vielen Grüßen von Tante Maria, Onkel Nikla und den Kindern.’“
Das war mein erster roter Ball. Den es nur in der Phantasie gab. Aber dann quälte ich meine Mutter doch so lange, bis sie mir einen roten Ball-nähte. Der Stoff war kräftig, er stammte aus einem Stück Inlett, das Innere des Balles kam aus der Scheune - Heu. Der Ball war fast rund, er hüpfte nicht die Bohne, aber man hatte trotzdem sehr viel mit ihm anfangen können. Sofort lief ich damit hinüber zu Käthe H. Sie war die mit der Quelle für Heiligenbildchen. Denn ihre ältere Schwester war im Kloster. Und für ein Bildchen von der Hl. Elisabeth würde ich sie schon mit dem neuen Ball zuerst spielen lassen. Es war nur ein Bildchen vom guten Hirten, das kurz darauf in meiner Schürzentasche steckte, und Käthe durfte dafür den Ball zehn Mal gegen die Hauswand der Familie Meyer gegenüber werfen. Aber zehn Mal, das schaffte der Ball nicht. Die Würfe gingen nämlich immer höher und beim vielleicht siebten Mal kam der neue Ball nicht mehr zurück. Wir hatten nicht mit den Fenstern in der Hauswand gerechnet, und in ein geschlossenes flog er unter Klirren hinein. Der Kopf der Hausbesitzerin zeigte sich bald äußerst verärgert, sie hielt - wie davon angeekelt -meinen neuen roten Ball in der Hand und schrie: „Wem gehört das Unding hier?“ „Mir“, sagte ich ganz zaghaft und wäre am liebsten im Erdboden verschwunden. Den Ball, mit dem ich nie gespielt hatte, bekam ich nie wieder. Meine Eltern hatten eine Woche Mühe bis sie gegen Ziegenmilch und ein paar Kohlköpfe irgendwo eine Glasscheibe eintauschen konnten und mir war für die gleiche Dauer die Spielzeit komplett gestrichen worden. Mit diesen Erinnerungen war ich noch auf der Bank am Brunnenplatz beschäftigt, als dann doch eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen kam. Endlich, dachte ich, jetzt wird sich das Kind über den roten Ball freuen. Das Mädchen lief sofort zum Ball und hob ihn auf. Die Mutter sagte: „Fass das doch nicht an. Du siehst doch, das alte Ding hat kaum noch Luft. Wirf es in den Abfallkorb dahinten!“ Und - plop - war der rote Ball fort.