Mein Opa, der Schuster

A. van Irsen

Vor mir liegt das Bild meines Großvaters. Es ist schon vergilbt, aber dennoch sieht man deutlich, wie stolz er aufrecht steht, ein schlanker Mensch, der durch seine Güte und sein gottgläubiges Wesen Vorbild für seine ganze Familie und sein Heimatdorf war. Er ist schon lange tot, aber noch sagen die, die ihn kannten, "et woar en joode Maan“, und das erfüllt den Enkel mit Stolz auf seinen Ahnen und dessen Arbeit; Anerkennung und Achtung vor all unseren Vorfahren, die durch ihr Leben und Wirken dazu beitrugen, dass wir Heutigen es in vielem leichter und besser haben.
Und wie ich so das Foto betrachte, fängt es an zu erzählen, erst leise und nicht für jeden verstehbar, dann aber deutlich und immer lebhafter:
"In meinem Heimatort hatte es zu Beginn dieses Jahrhunderts stets drei bis vier Schuhmacher gegeben, heute leider keinen mehr. Dies war damals recht viel für das kleine Dorf mit seinen rund 300 Einwohnern. So kam es auch, dass keiner von uns dort hinreichend Arbeit fand. Wir waren, um unsere großen Familien ernähren zu können, schon darauf angewiesen, Kundschaft in der näheren und weiteren Umgebung zu finden und zu betreuen. Als mein Vater starb und mein Bruder im Ersten Weltkrieg fiel - beide waren Schuster -, blieb deren Kundschaft mir erhalten. Es ging richtig familiär zu, und oft wurde ich von meinen Kunden zur Kirmes, zu Hochzeiten und Beerdigungen gerufen oder sie waren bei derartigen Anlässen in unserer Familie zu Gast. Damals lebten in den einzelnen Häusern noch viele Personen, Onkel und Tanten, Knechte und Mägde unter einem Dach. Da fiel für mich als Schuster schon eine Menge Arbeit an, besonders wenn neben den Reparaturen auch Neuanfertigungen notwendig waren. Wenn man mich ins Haus eines Kunden rief, wo ich dann meist mehrere Tage blieb, musste ich mein Werkzeug mitnehmen. Dafür hatte ich einen besonderen Tornister, der wie eine feste, innen gefütterte Lade aussah. Die Außenseite war auf dem Rücken gepolstert, ansonsten mit einem behaarten Fell versehen. Wie ein Rucksack wurde dann dieser Tornister, Schostersaack sagten wir, die weiten und meist schlechten Wege getragen, oft Strecken von weit über zehn Kilometer. Und der Schostersaack war schwer. Was denkst du, was ich alles am Vorabend, meist ging es auf Mitternacht zu,

Schuster Peter Blum, Gemünden (1955)

hineinpacken musste: ein paar große und kleine Schustermesser ("Kneipen“), Wetzstahl und -stein ("Schleijf-steen“), Haumesser ("Haukling“) zum Entfernen abgelaufener Nägelspitzen ("Noahlspetzen“), zwei Sorten Ahlen („Seijl“), die Leder- und Pinnenraspel, die Kneif- und Zwickzange, das Sohlenmesser, den Sohlenrandglätter und den Leistenhaken, das Metermaß und Fußmaß, Schere und Schuhlöffel, den Schusterhammer und den Knieriemen, meine Schusterschürze und die Handschuhe, all die vielen Holzpinnen, die verschiedensten Nägel, Stoß-und Absatzeisen, Pech und Schuhschwärze, Wachs und Leim, Schuhösen und -krampen, Hanfgarn und Bürsten für den Pechdraht. So, nun stell dir vor, wie schwer bepackt ich war, wie rasch ich morgens - meist ging ich um fünf Uhr früh von zu Hause fort - ins Schwitzen geriet, besonders, wenn ich auch noch den schweren eisernen Dreifuß ("Pinnefoß“), die große Holzklammer ("Zwing“) und all das Leder mitschleppen musste.
Doch zum Glück hatten viele meiner Kunden ihren eigenen Pinnefuß und eigenes Oberleder vom Kalb und Rind und Sohlleder aus gegerbten Viehhäuten. Bei der Kundschaft angekommen, packte ich dann meinen Schostersaack auf der großen Bank aus, die es ja in jedem Bauernhaus gab; und nach dem Morgenkaffee, den man mir als Willkomm reichte, begann dann mein Tagewerk. Zunächst reparierte und flickte ich einen großen Haufen an Schuhwerk, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hatte; dafür brauchte ich schon mehrere Tage. Wurden aber neue Schuhe benötigt, nahm ich genau Maß und zeichnete es in mein Kundenbuch ein. Hatte der Bauer selbst das benötigte Sohl- und Oberleder vorrätig, schnitt ich an Ort und Stelle die Schuhschäfte, wobei ich Schnittmuster aus starkem Karton benutzte. Die Schäftteile waren: der Vorderschuh mit angesetzten Abdeckkappen ("Maul“), der Hinterschuh ("hinnischte Schoh“), die Schuhlaschen ("Zung“), die Abdeckriemen ("Briesen“), die Strippen ("Schlaufen“). Das Schuhfutter machte ich aus ganz leichtem Kalbsleder oder aus starkem Leinen. Mit den ausgeschnittenen Teilen oder den Maßen in meinem Kundenbuch trat ich dann wieder den kilometerlangen Heimweg an. Es war meist schon dunkel, wenn ich zu Hause ankam.Aber deswegen hatte ich noch keinen Feierabend, denn jetzt begann eine wichtige Arbeit; alle Schäftteile mussten ja mit der Schusternähmaschine zusammengenäht werden. Anfangs funzelte dabei noch Petroleumlicht, später hatte ich eine Karbidlampe, und wie gut tat es meinen Augen, als in den 1920er Jahren das elektrische Licht leuchtete. Meistens war es so um Mitternacht, wenn ich mit dem Zusammennähen fertig war, und öfter als einmal sagte deine Oma: "Nou je, Kloas, maach dech de Trepp eropp!“ In aller Herrgottsfrühe machte ich mich dann mit den fertigen Schuhschäften und den passenden Leisten wieder auf den Weg zu meinen Kunden. Dort verstärkte ich die Randnähte entlang den eingefügten Vorder- und Hinterkappen mit Pechdraht und begann den Aufbau des eigentlichen Schuhes. Viele Stunden Arbeit gingen

Schustermeister Konrad Gruber,
Üdersdorf, mit Lehrling Johann Lebens,
Kinderbeuren (1931)
                       

Foto: Katharina Gruber

drauf, und oft kamen die Bauernkinder, sahen mir zu, fragten mich, und ich erzählte ihnen viele schöne Geschichten. Besonderen Spaß hatten sie, wenn ich mit dem Schusterhammer die Schuhsohle, die über Nacht in Wasser eingeweicht war, fest und gleichmäßig klopfte. An diesem rhythmischen Hämmern konnte auch jeder im Dorf erkennen: "De Schoster oss wejer doa!“
Zum Schluss, wenn die Holzleisten raus, alles fein und glatt geraspelt, die Reihlöcher mit der Lochzange "ge-petscht“ und die Schuhriemen aus bestem Oberleder eingefädelt waren, wurden die Schuhe mit Wachs eingerieben, verdichtet und braun oder schwarz gefärbt. Ich habe schöne Schuhe gemacht, und alle haben mich gelobt, wie gut und bequem man in ihnen laufen kann. Die wenigsten Bauern haben mich sofort bezahlt; das Anschreiben war üblich und nach Wochen oder nach einem halben Jahr wurde die Schuld beglichen. Meine Arbeit und meine Leistungen habe ich fein im Kundenbuch vermerkt, zum Beispiel: 18.03.1922: Mattes 1 Paar Schuhe gesohlt und genagelt = 0,80 RM; Material gestellt = 1,- RM; 1 Naht genäht und 1 Absatz aufgebaut = 0,45 RM; 2 Tage im Haus gearbeitet = 6,- RM. Ich habe nämlich pro Arbeitstag, das waren so um die zehn Stunden, nur 3 Reichsmark berechnet, wenn ich die Kost erhielt. Hatte der Kunde bezahlt, habe ich ihn aus dem Büchlein gestrichen. Das Geldeintreiben war schon ein Problem, denn ich musste ja meine Lieferanten immer sofort bezahlen; die Oma musste schon gut haushalten können, um all die vielen Münder satt zu bekommen. Ganz schlimm war es während den Inflationsjahren, als das Geld "kaputt“ ging. Da zahlte keiner mehr; einmal war der Verdienst eines ganzen Jahres "futsch“, und voller Enttäuschung habe ich mein Kundenbuch ins Feuer geworfen. Aber dennoch sind wir mit unserer Familie irgendwie über die Runden gekommen.“ Ja, Opa, das seid ihr, und wir, deine Nachkommen, werden dein Bild und die Erinnerung an Euch und eure Arbeit treu und dankbar in uns weiterleben lassen.

Zeichnung:

Kerstin Weinacht, Kerpen