Altes Handwerk

Was ein Meister erzählte

Heribert Albring, Gerolstein

In diesem Artikel wurden Personen und Ortsnamen mit Rücksicht auf lebende Personen geändert.
Bei einer Fabrik im Landkreis hatte Wilhelm K., Jahrgang 1898, Kaufmann gelernt. Er wollte jedoch sebständig und unabhängig sein. Darum lernte er noch das Schuhmacherhandwerk und wurde selbständiger Meister. Aus kleinen Anfängen baute er sich in einem hiesigen Dorf eine Existenz auf.
In der Zeit der Arbeitslosigkeit nach dem ersten Weltkrieg kam es häufig vor, dass morgens Handwerksburschen vor seiner Türe standen und um eine Wegzehrung baten. Einer behauptete mal ein Schuhmacher zu sein. „Du kommst mir gerade recht! Dann kannst du dir gleich dein Mittagessen verdienen.“ Damit hatte der Mann nicht gerechnet, denn von diesem Handwerk hatte er keine Ahnung. Die Handwerksburschen fanden keine Arbeit mehr, und oft mussten sie sich mit Betteln durchschlagen. Wahrscheinlich entstand in dieser Zeit das Bild vom Handwerksburschen als armer Hungerleider.
Doch das war einmal anders. Die große Zeit der wandernden Handwerksgesellen war nach dem I. Weltkrieg vorbei. Ihren Höhepunkt hatte sie im 19. Jahrhundert. Durch eine straffe Zunftordnung war die Lehrlingsausbildung, das Gesellenwandern und die Meisterprüfung geregelt. Eine Handwerksausbildung konnte sich damals nur eine bürgerlich situierte Familie leisten. Die Lehrlinge verdienten außer gelegentlichen Trinkgeldern in ihrer drei bis fünfjährigen Lehrzeit nichts; es musste vielmehr für jedes Lehrjahr Lehrgeld gezahlt werden, im Uhrmacherhandwerk noch bis 1935. Die Ausbildung kostete mehr an Zeitaufwand, als der Lehrling erarbeiten konnte. Nicht jede Familie konnte es sich damals leisten einen Lernenden noch mit Kleidung usw. zu unterhalten.
In den Handwerksbetrieben herrschte strenge Ordnung. Wenn zum Beispiel ein Lehrling die Gesellenprüfung bestanden hatte, mussten von dem Tag an die jüngeren Lehrlinge ihn mit „Sie“ anreden. In einer westdeutschen Textilfirma, die Konfektionskleidung herstellte, gab es das noch bis Mitte der 1950er Jahre. Für Sauberkeit und Ordnung in der Werkstatt waren die Lehrlinge ebenfalls verantwortlich. Montags kam jeder, Lehrlinge und Gesellen, im frischen blauen Anzug zur Arbeit. Daher stammt die Redensart vom „blauen Montag“. Nach einer anderen Version ließen die Blaufärber des Montags die Stoffe (Leinen oder Nessel) in der Fabrik ziehen und hatten deshalb frei. Es war vielfach ungeschriebenes Gesetz, dass die Lehrlinge den Gesellen montags morgens eine Flasche Bier, Brötchen und einen Zipfel Wurst holen mussten, wofür die Gesellen ihnen das nötige Geld gaben. Aber jene Lehrlinge wurden durchweg qualifizierte Fachleute, die oft Arbeitstechniken beherrschten, die heute unbekannt sind und - sie hatten durchweg eine hohe Arbeitsmoral. Im Sprichwort heißt es: Geselle ist, wer etwas kann, Meister, wer etwas ersann, Lehrling ist Jedermann! Wenn die Lehre mit der bestandenen Gesellenprüfung abgeschlossen war, mussten die Gesellen wenigstens zwei Jahre auf Wanderschaft gehen. Sie mussten mindestens 50 km von zu Hause wegbleiben. Der Sinn war, in anderen Werkstätten andere Arbeitsmethoden, andere Menschen und Städte kennen zu lernen. Damit verbunden war auch eine Erweiterung des allgemeinen Bildungsniveaus. Jeder Geselle hatte ein Wanderund Arbeitsbuch, in dem die Beschäftigungszeiten eingetragen wurden, ebenso die Orte, in denen er vorsprach.
War er auf Wanderschaft, dann musste er täglich wenigstens 20 Kilometer weiterwandern. Dadurch wurde unterbunden, dass einer sich längere Zeit etwa mit Betteln in einer Gegend aufhielt, was durch das Wanderbuch kontrollierbar war. Die wenigen Habseligkeiten wurden im „Felleisen“ auf dem Rücken getragen. Das Felleisen bestand aus wasserdichtem Rinderfell mit der Haarseite nach außen und hatte einen Innenrahmen aus Eisen. Es hatte die Form eines Schulranzens. Man sprach auch vom Ranzen oder dichterich vom „Ränzlein“.
Kam ein Geselle in einen Ort, so ging er zu den Werkstätten seines Handwerks und sagte seinen Begrüßungsspruch: „Grüß Gott Herr Meister, Frau Meisterin (sofern diese anwesend war) und Gesellen, auch die Lehrlinge ein wenig. Wandernder Geselle bittet um Arbeit (oder...bittet um eine Wegzehrung).“ Dann konnte er sich in der Werkstatt umsehen. Wenn der Meister ihn brauchen konnte, wurde er eingestellt. Andernfalls bekam er eine Mahlzeit oder Wegzehrung und einen kleinen Geldbetrag. Die arbeitenden Gesellen wurden im Haus des Meisters beköstigt und wohnten meist auch dort. In größeren Städten gingen die Gesellen zuerst zum Obermeister ihres Handwerks, der sie dann an die einzelnen Werkstätten verwies. Ein Geselle konnte aber auch einem Meister, der ihn einstellen wollte erklären, dass er weiterwandern wollte.
Natürlich gab es dabei manchen, der dies relativ sorgenfreie Wandern ausnützte, viele Jahre oder ein ganzes Leben lang auf Wanderschaft war. Wenn dann im Arbeitsbuch auch noch wenige Beschäftigungszeiten eingetragen waren, wurde es immer schwerer Arbeit zu bekommen. Dann konnte es vorkommen, dass er zum heimatlosen, sich mit Betteln durchschlagenden „armen Handwerksburschen“ wurde. Kein Wanderbursche war wohlhabend. Dafür war der Lohn, der nur zum Lebensunterhalt reichte, zu gering. Vor diesem Hintergrund muss man es sehen, dass in der Arbeitslosenzeit nach dem I. Weltkrieg morgens die Handwerksburschen vor der Türe von Meister K. standen. Es war nicht mehr das Wandern vergangener Zeit; es war nur noch ein sich Durchschlagen in dieser Notzeit. Nach alter Tradition gingen die Handwerksburschen (es waren keineswegs mehr nur solche) vorrangig zu den Handwerksbetrieben, auch wenn diese nicht wie einstmals vom erlernten Handwerk waren. Durch die Not der Zeit war das Wandern vielfach zum Betteln verkommen. Nikolaus M. war seit 1930, und mit Unterbrechung durch den II. Weltkrieg, bis 1960 Geselle bei Wilhelm K. Er gehörte mit zur Familie. Im Januar/Februar 1945, hatte er Urlaub von der Ostfront. Das Ende des Krieges war abzusehen. Wilhelm K. versteckte ihn, wurde aber von einem NS Parteimann gewarnt. Man wisse, dass Nikolaus M. hier wäre. Wenn er am anderen Morgen nicht weg wäre, dann käme die Feldpolizei und dann würde nicht nur er, sondern auch Wilhelm K. abgeholt. Nikolaus M. trampte daraufhin mit Militärfahrzeugen Richtung Osten. Er hatte das Glück, schon im Sommer 1945 aus Gefangenschaft zurückzukehren. Nikolaus M. war als junger Mann noch mit seinem Vater über die Dörfer gezogen und hatte mit diesem bei den Bauern die Schuhe gemacht. Den Dreifuß und das übrige Handwerkszeug, hatten sie immer dabei. Die Bauern stellten das Leder. Sie ließen in den Gerbereien in Prüm, Waxweiler, Hillesheim, Manderscheid usw. die Häute ihrer Tiere gerben. Hiervon stammt der Spruch: „Von anderer Leute Leder ist gut Riemen schneiden“. Besonders die wohlhabenden Bauern drückten den Lohn und manchesmal hatten die beiden kaum den Lebensunterhalt verdient. Im zweiten Weltkrieg gehörte Wilhelm K. zu den älteren Jahrgängen. Weil er außerdem die Region mit seinem besonders notwendigen Schuhmacherhandwerk versorgte, wurde er vom Militärdienst freigestellt. Als Gesellen bekam er zunächst einen polnischen Kriegsgefangenen zugewiesen. Dieser hatte zuerst das Handwerk erlernt und dann Theologie studiert. Nach dreiviertel Jahr wurde er weggeholt und drei französische Gefangene wurden zugeteilt. Diese waren keine guten Handwerker. Einer zeigte ein Foto von sich vor einem Schuhgeschäft und behauptete Schuhmacher zu sein; aber er war es nicht, er hatte nur ein Geschäft. 1943 - 1944 kamen dann drei Russen, die sehr gut arbeitende Handwerker waren. Sie fügten sich in die Dorfgemeinschaft ein und halfen wo sie konnten. Wegen dem Bombenkrieg wurden von der Bevölkerung Unterstände und Fluchtmöglichkeiten in der Umgebung gesucht und gebaut. So bauten die drei Russen für die Familie K. in einer Schlucht einen Erdbunker. Auch ein kleiner Bachlauf wurde zur Versorgung dorthin umgeleitet. Ende der 1950er Jahre übernahm der Sohn Johannes die Werkstatt und das Geschäft. Die Zeiten hatten sich geändert und vielfach die Denkweise der Menschen hin zu einem materialistischen Anspruchsdenken, was sich auch im täglichen Miteinander bemerkbar machte. Wenn z.B. als Weihnachtsgeschenk Schuhe gekauft wurden und diese passten nicht, dann kam man zum Umtauschen am ersten Weihnachtstag morgens, sodass Johannes und seine Frau nicht mal zur Kirche gehen konnten. Oder man beschwerte sich heftig, weil die Werkstatt samstags geschlossen war um etwas Zeit für die eigene Familie zu haben. Man bedachte nicht, dass beim selbständigen Handwerker der Arbeitstag vielfach 10 bis 15 Stunden dauert. Jahrelang war Johannes neben seinem Handwerk noch für eine Schuhmacher Bedarfsartikel-Firma unterwegs. Seine Frau führte währenddessen das Geschäft. Dazu mussten noch die alten Eltern versorgt werden, die keine Krankenkassen oder Rentenversicherung hatten. Dann hatte der Arbeitstag durchweg fünfzehn Stunden. In einer Broschüre, seinerzeit vom Rheinischen Landschaftsverband herausgegeben, wurde mit feministischer Tendenz behauptet, dass früher in den Dörfern die Kinder sich selbst überlassen verwahrlosten und die alten Leute durch die viele Arbeit nicht versorgt wurden. Als Kenner der dörflichen Verhältnisse aus den ersten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts und den weiter zurückreichenden Überlieferungen, kann ich sagen: Nichts ist falscher als diese Behauptung. Die alten Leute wurden im Allgemeinen oft unter Opfern der gesamten Familie versorgt und gepflegt. Als Kinder streunten wir durch Wald und Feld; aber immer wieder traf man auf Leute aus dem Dorf - und wehe, wenn sich einer daneben benahm. Keines der Kinder hatte eine Uhr; aber ich habe es nie erlebt, dass eines das Mittag- oder Abendessen versäumte, denn hinterher gab es nichts mehr. Das Mittag- und Abendläuten der Dorfkirche wurde nie überhört. Die jüngere Generation mit der „Gnade der späten Geburt“, weiß es im nachhinein oft besser als die, die es erlebten!?
In der „guten alten Zeit“ musste viel und hart gearbeitet werden. Aber es herrschte nicht das hektische Minuten-und Sekundendenken unserer Zeit. Alles verlief gelassener und harmonischer. Es sagte mal Jemand vom Geschichtsverein „Zwischen Venn und Schneifel“ in Sankt Vith: „Nostalgie ist die Sehnsucht nach einer Zeit, in der es nichts zu lachen gab“ - oder doch!?

Quellen:
ALBRING, H.: Familiengeschichte, unveröffentlicht
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