Inmitten der Trümmer

Eine rätselhafte Medaille

Wilma Herzog, Gerolstein

Schwere und mühselige Arbeit für unsere Familie blieb auch noch im Frühjahr 1946 das Fortschaffen der Ruinenteile der Löwenburg, die durch die Bombenangriffe 1944/45 auf unseren Garten direkt unterhalb gestürzt waren. Die Nachbargärten waren längst bestellt und sicherten den Besitzern damit schon die damals so lebenswichtige Selbstversorgung und noch immer schien der Trümmerberg in unserem Garten kaum abzunehmen, obwohl wir schon viele Handwagenladungen in die Bombentrichter des Gartens gekippt und die damit größtenteils aufgefüllt hatten. An diesem unvergesslichen Maitag zerschlug mein Vater ein größeres Mauerstück, das Teerspuren aufwies.

Da schimmerte plötzlich etwas Metallenes auf, er glaubte einen alten Nagel gefunden zu haben. Die waren wichtig in der Notzeit nach dem Krieg, sie wurden alle noch sorgfältig zur Wiederverwendung gerade geklopft. Aber es war kein Nagel, der zwischen den teerverklebten Steinen sichtbar wurde, es war eine Öse. Vorsichtig arbeitete er sich weiter, und es kam eine komplette Medaille zum Vorschein, mit etwa sieben cm Durchmesser. Sie zeigte im Profil einen Mann und eine Frau, deren Köpfe plastisch herausgearbeitet waren.

Und sein Herz schlug schneller, denn ihm wurde bewusst, dass dies ganz offensichtlich ein Herrscherpaar aus alter Zeit war. Der bärtige Herr war dargestellt mit Schärpe und Orden die Dame mit einem hochgestellten fein ziselierten Spitzenkragen. Das Paar war umrahmt von einem lateinischen Schriftzug. Mein Vater wickelte seinen Fund sorgfältig ins Taschentuch, steckte ihn in die Tasche der Arbeitsjacke. Die Hand schützend darum gelegt lief er heim und löste damit bei meiner Mutter und uns Kindern Staunen und größte Bewunderung aus. Eines der Rätsel der Medaille löste meine Schwester, als sie unter Lupe in einer winzigen Schräge die Jahreszahl 1603 entdeckte.

Mein Bruder, damals Messdiener, schlug vor, den lateinischen Schriftzug vom Pastor übersetzen zu lassen. Danach stand fest, König Heinrich IV war auf der Medaille abgebildet und seine Frau, die Königin Maria. Weil mein Vater seinen Fund einigen Leuten gezeigt hatte, kamen Kaufangebote wie von allein in unser Haus. Die meisten waren allerdings solche zum Tausch gegen Lebensmittel. Ein Bierhändler bot meinem Vater sofort zwei Kästen Bier an. Verführerisch dagegen war schon das Angebot eines Rother Bauern: Ein ganzer Wintervorrat Kartoffeln. Aber alle Angebote blieben weit unter dem von uns angenommenen hohen Wert der Medaille zurück und unser Vater hielt eisern an seinem rätselhaften kostbaren Schatz fest.

Längst war unser Garten im Bungert von allen Mauertrümmern befreit, doch unsere Familie durchlebte weiterhin Notjahre in ihrer vollen Härte. Aber wir besaßen mit dieser Medaille einen geheimen Schatz und zugleich etwas so Wunderbares, das uns von den anderen abhob. Selbst als mein Vater 1962 schwer erkrankt ins Krankenhaus kam, wo er wenige Tage später starb, hatte er sich die Medaille noch von meiner Mutter bringen lassen, um sie dem behandelnden Arzt und anderen zu zeigen.

Zu dieser Zeit lebte ich bereits in New York. Durch meinen Ehemann, einem gebürtigen New Yorker, lernte ich viel Schönes in seiner Heimatstadt kennen. Wir besuchten gerne die großen Museen und kamen eines Tages auch ins Numismatische Museum. Als ich die Auslagen einer bestimmten Glasvitrine betrachtete, schien ich plötzlich Geschwister jener Medaille zu sehen, die mein Vater damals gefunden hatte.

Genau wie diese waren sie mit Punktverzierungen umrandet. Aufgeregt beugte ich mich tiefer über die Glasplatte und besah diese Münzen und Medaillen noch genauer und stieß unwillkürlich einen Schrei aus: „Vaters Medaille!“ Da lag sie vor mir, nicht schwärzlich und aus Bronze wie sein Fund, sondern wunderschön, wie aus purem Gold gegossen, mit viel besser erkennbaren Details. Alarmiert durch meinen Ausruf war ein Museumsangestellter herbeigeeilt, aufgeregt fragte ich ihn, ob man eine Fotografie dieser Medaille erhalten könne mit einer Beschreibung. Das dürfte kein Problem sein, sagte er und dirigierte mich in das Büro, wo ich sofort den Auftrag dazu gab. Überglücklich erhielt ich wenige Tage später den Brief in Händen mit diesen schwarz-weißen Fotos der Vorder- und Rückseite und der genauen Beschreibung, von wem und weshalb diese Medaille angefertigt wurde.

Geprägt wurde sie von dem berühmten französischen Münzpräger Guillaume Dupré. Sie zeigt umgeben von den Worten HENR(icus) IIII R(ex) Christ(ianissimus) und Maria Avgvsta den französischen König Heinrich I V. mit seiner zweite Frau, Marie de Medici. Dieser König wurde als Heinrich von Bourbon am 13.12.1553 in Pau, Navarra geboren. 1589 wurde er König von Frankreich und der beliebteste aller Herrscher und einer der fähigsten. Das von Religionskriegen zerrüttete Land baute er wieder auf, er sicherte am 13. April 1598 mit dem Edikt von Nantes den Protestantischen Hugenotten Toleranz zu und freie Ausübung ihrer Religion, er beendete damit 36 Jahre schärfster Verfolgung. Er schuf die Grundlagen für einen französischen Einheitsstaat.

1600 vermählte er sich mit Marie de Medici. Die Medaille wurde zur Erinnerung an die Geburt des Sohnes Ludwig geprägt und stellt auf der Rückseite diesen als Kind dar. Über ihm reichen sich der König als Mars und die Königin als Pallas, Göttin der Weisheit, die Hände. Die sie umgebenden Worte Propago Imperi drücken die dynastischen Hoffnungen der königlichen Eltern und ihre Ziele für ihren Sohn aus, die sich erfüllten, als dieser später als Ludwig XIII., König von Frankreich wurde. Damit waren alle Rätsel der Medaille gelöst. Uns Geschwistern blieben nur die Fotos aus dem New Yorker Numismatischen Museum dieser Medaille von Heinrich IV., den die Franzosen mit Zuneigung: „Unser guter König Heinrich“ nannten und die Erinnerung, wie ihr Fund in den Trümmern damals sich als Lichtschimmer von fern her über unsere düsteren Notjahre legte.