Einsames Glück

Maria Bernhardt, Daun

Die Sonne dringt heute mit ihren Strahlen bis in die hinterste Ecke der großen Küche. Am Tisch sitzt, wie jeden Tag um diese Zeit, eine kleine zarte Frauengestalt in einem Lehnstuhl. Ein Teller, mit drei Spalten belegtem Brot, steht abgedeckt auf der nackten Fläche des Küchentisches. Daneben ein Glas mit Wasser und ein zusammengefaltetes kariertes Geschirrtuch. Auf der Anrichte steht ein Radio. Es ist ausgeschaltet. Davor eine kleine Uhr. Alle 15 Minuten erfolgt aus ihr die akustische Zeitangabe. Soeben ertönt zuerst ein Gong und eine Sekunde später schallt eine Stimme in den Raum, „Es ist Fünfzehn-Uhr-fünfzehn“. Dann zeichnet sich das leise Ticken wieder hörbar in die Stille.

Obwohl die Zeit auf die Sekunde genau von dieser Uhr angesagt wird, lässt sie doch ein Gefühl der Zeitlosigkeit aufkommen. Die beiden zerbrechlich wirkenden Hände der Frau greifen nach dem Glas vor ihr und führen es zum Mund. Sie nimmt einen Schluck Wasser daraus und tupft die am Glasrand herunterperlenden Tropfen mit dem Geschirrtuch ab. Danach erhebt sie sich langsam. Mit suchendem Schritt -ihre rechte Hand läuft dabei an der Tischkante entlang -geht sie zu einem Eckschrank auf dem ein altes Telefon steht. Ihre Hände nehmen den Hörer ab und betasten die Wählscheibe.

Dann greift sie gezielt mit dem Zeigefinger der rechten Hand in den Lochkreis, der für die Null steht, dreht die Scheibe langsam bis zum Anschlag und lässt ihren Finger mit ihr wieder zurück gleiten. Von dort aus zählt er sich fort auf die Sechs, dreht wieder bis zum Anschlag, zählt vor, wählt, zählt mal zurück und wählt. Sie wiederholt diesen Vorgang neun Mal. Erst nach der letzten Zahl führt sie den Hörer zum Ohr.

Sie wartet. Zaghaft, ja ein wenig schwach, spricht sie ohne ihren Namen zu nennen in die Hörmuschel: „Wo hab ich dich denn hergeholt?“ Es folgt eine kurze Stille. „Ah, du warst im Garten.“ Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Ja, der Garten - ihr Garten, früher - war ihr ganzer Stolz.

Nach kurzem Gespräch tastet sie nach der Hörgabel, legt den Hörer auf, geht zu ihrem Platz, setzt sich wieder in ihren Stuhl und lehnt sich zurück. Das Lächeln, welches zu Beginn des Gespräches auf ihrem Gesicht erblühte, blüht weiter.