Meine erste Wallfahrt

Tamara Retterath, Lirstal

Meinem Vater danke ich für umfangreiche Informationen, die mir Inspiration für die folgende Erzählung waren und aus dessen Sicht geschildert wird:

Jedes Jahr, um den halben September, erinnere ich mich an die jährlichen Wallfahrten in meiner Kindheit. Als meine Mutter mir damals nach dem Krieg erzählte, ich dürfe an einer Wallfahrt teilnehmen, war ich überglücklich. Für einen kleinen Schuljungen war dieses Ereignis eine willkommene Abwechslung in seinem Alltag. Die Wallfahrt sollte nach St. Jost ins Nitztal gehen. Schon Wochen vorher freute ich mich über diese Ankündigung und löcherte sie tagelang mit meinen Fragen. Meine Erwartung steigerte sich von Tag zu Tag, was bei meiner ersten Fußwallfahrt an Eindrücken und Erlebnissen auf mich zukommen würde. Endlich war es an einem schönen „Altweiber“-Som-mertag so weit: Der von mir langersehnte Sonntag war da und etwa fünf Frauen und zehn Kinder meines kleinen Eifeldorfes trafen sich nach dem Mittagessen in der Ortsmitte am Kapellchen. An diesem Sonntag hatten wir alle am Morgen bereits das Hochamt im Nachbarort der Pfarrgemeinde gefeiert, wobei wir bereits je zwei km Fußmarsch hin und zurück bewältigt hatten. Als Kind war ich es ge-

wohnt, den weiten Weg zu gehen, da es auch mein täglicher Schulweg war. Nun brach unsere kleine Gruppe betend auf, zunächst auf der Bundesstraße B 410 in Richtung Mayen bis nach Neuvir-neburg. Die Männer des Dorfes blieben zuhause, sie nahmen an der Wallfahrt nicht teil, denn sie mussten an diesem Tag das Vieh versorgen und auf die Weide führen, was ansonsten die tägliche Arbeit der Frauen und Kinder war. Unsere kleine Pilgergruppe ging an Neuvirneburg vorbei, entlang an noch nicht abgeernteten Kartoffel- oder Rübenfeldern und - da meine erste Wallfahrt nach dem Krieg stattfand - auch an mehreren Bombentrichtern vorbei.

Viele Pilger erbaten vom hl. Jodokus Beistand, Hilfe und Schutz für Mensch und Tier, Haus, Hof und Feld. Jodokus galt seit dem 16. Jhd. als Lieblingsheiliger der Bauern, als Beschützer vor Gewitter und Hagelschlag, bei Viehseuchen, Schädlingsbefall von Feldfrüchten und Obstbäumen, auch als Nothelfer bei ausbleibendem Kindersegen und als wirksamer Helfer bei Augen- und Herzleiden. Während wir neben dem „Vater unser“ und dem „Gegrüßet seist du Maria“ auch „Heiliger Jodokus zu dir kommen wir, unsere Fürbitte begehren wir“ beteten, bemerkte ich einen Feldhasen hoppeln. Eine in-

Hl. Jodokus in der St.-Jost-Ka-pelle

teressante Ablenkung vom Beten war für mich kleinen Jungen auch später ein Fuchs, der Mäuse auf dem Feld aufspürte. An einem Waldpfad kamen wir später an einem

Holzfigur Hl. Jodokus mit Pilgerstab aus dem 18. Jhd.

Kapellchen an der „Blumenrather Heide“

großen Basaltkreuz vorbei, zu dessen Füßen Hunderte kleiner Holzkreuze lagen. Es war Brauch, dass diejenigen Wallfahrer, die zum ersten Mal nach St. Jost pilgerten, hier ein selbstgebasteltes Kreuz ablegten. Die meisten Kreuze stammten von Kindern, da viele Erwachsene bereits mehrfach, meist seit Jahren, diese Pilgertour absolviert

hatten. Unser Vater hatte mir und meiner älteren Schwester zuhause jeweils ein Holzkreuz aus „Spolierlätzje“ (kleinen dünnen Latten) angefertigt, die wir Kinder nun kniend ablegten. Hierbei sprachen wir ein kurzes Gebet. Ich war als kleiner Junge sehr ergriffen von der Vielzahl der, an den zahlreichen Kreuzen ablesbaren, gläubigen Erstpilger, die

St. Jost-Kapelle

vor uns diesen Weg gegangen waren. Sie beherzigten das Wort der heiligen Schrift: „All´ eure Sorgen werfet auf den Herrn, er wird´s wohl ma-chen!“ Eine weitere Deutung meint, dass die Pilger die kleinen Kreuzchen am Fuße des großen steinernen Kreuzes niederlegen, damit sie glücklich den abschüssigen Pfad nach St. Jost hinunter ins Tal gelangen.

Nun begann der schwierigste Teil des Pilgerwegs: Es ging steil bergab über Stock und Stein ins Nitzbachtal zwischen Langenfeld und Virne-burg. An dem schmalen abschüssigen Trampelpfad hinunter ins Tal war das Gefälle recht stark und der Hang besonders steil. Unten angekommen, traten wir aus dem Waldgebiet, standen endlich im St.-Jost-Tal und hatten die unmittelbare, freie Sicht auf das idyllisch gelegene Wallfahrtskirchlein, welches in diesen frühen Herbstmonaten Pilgerziel zahlreicher Gläubigen, nicht nur aus der Umgebung der Eifel, sondern auch aus den Gebieten an Rhein, Mosel und Ahr sowie vom Westerwald war. Sogar von weit her kamen Wallfahrer zur Gnadenkapelle, die selbst mehrere Tage andauernde beschwerliche Fußwege nicht scheuten.

Im grünen Wiesental versammelten sich alle Pilger zu einer Andacht im Freien, da schönes Wetter war. Hier stand bereits ein gemauerter Altar aus schwerem Naturstein, der auf Betreiben des ehemaligen Missionspaters Peter Klein 1947 in Eigenleis-

Die seit 1991 gefasste Jodokus-Quelle

tung errichtet und im gleichen Jahr vom Trierer Weihbischof Bernhard Stein feierlich eingesegnet worden war. Die „Weißen Patres“ aus der Pfarrgemeinde Langenfeld traten nun mit der Monstranz aus der St.-Jost-Kapelle, schritten zum Altar nach draußen und begannen mit ihrer Predigt. Die darauf folgende Andacht wurde mit der großen Pilgerschar sehr feierlich mit Gebeten und Kirchenliedern begangen. Tief bewegt verfolgte ich die Betstunde und sang bei dem Lied „Großer Gott, wir loben dich“ kräftig mit. Zum Ende der Andacht erhielten wir noch den Segen. Im Anschluss daran wollten alle Gläubigen den heiligen Jodokus ehren. Sie gingen in einer langen Prozession über die kleine Brücke, die den Nitzbach überspannte, betraten die Wallfahrtskapelle und schritten betend zum Altar, um dort die Reliquien des hl. Jodokus

zu ehren und anschließend den Altar zu umrunden. Auf der Wiese bildete sich vor der Eingangspforte zur kleinen Gnadenkapelle eine riesige Menschenschlange, und man musste sich sehr gedulden, bis alle Pilger nacheinander in die St.-Jost-Kapelle eintreten konnten. Zunächst erblickte ich ehrfurchtsvoll die vielen flackernden Opferlichter und auch die zahlreichen an der Wand befestigten Dankestä-felchen. Dann fielen mir die vielen Krücken und Gehhilfen auf, die Zeugnis ablegten für die erwiesene Hilfe nach der Anbetung des hl. Jodokus. Und als sich mein Blick beim Schreiten entlang der Kirchenbänke nach vorn richtete, betrachtete ich den kunstvollen Hochalter, den ein Steinmetz (mit Sicherheit ein Eifeler Meister) aus Weiberner Tuffstein 1655 Figur um Figur gemeißelt hatte. Staunend schaute ich mir die schönen reliefartigen, bunt bemalten Bilddarstellungen biblischer Szenen und Heiligenfiguren an.

Aber wer war Jodokus, der hier in St. Jost verehrt wird, eigentlich? Er war der Sohn eines vornehmen christlichen Stammesfürsten namens Jud-hael, der Anfang des 7. Jhds. in der Bretagne lebte. Nach dem Tod seines Vaters verzichtete er auf die Übernahme der Herrschaft und zog sich in das Kloster Lan-Maelmon (ebenfalls Nordfrankreich) zurück. Als eines Tages elf Pilger auf dem Weg nach Rom dort vorbeizogen, schloss sich Jodokus ihnen an. Sie pilgerten unterwegs

durch die Pikardie, wo sie von Herzog Haymo aufgenommen wurden. Hier blieb Jodokus und wurde zum Priester ausgebildet und geweiht. Noch sieben Jahre lebte Jodokus als Schlosskaplan im Hause des Herzogs, doch dann zog es ihn mit seinem Schüler Wul-mar in die Einsamkeit. Dort verbrachten sie 22 Jahre in verschiedenen Einsiedeleien in Gottes- und Nächstenliebe. Schließlich ließen sie sich in einem kleinen Tal nahe der Küste an der Straße von Calais nieder. Als Jodokus seinen Stab in die Erde steckte, entsprang dem Boden eine Heilquelle, an der später viele Kranke geheilt wurden. Im Jahre 655 machte Jodokus schließlich doch noch eine Wallfahrt nach Rom, von wo er Reliquien von Heiligen mitbrachte, die er vom Papst geschenkt bekommen hatte. Graf Haymo hatte während der Abwesenheit des Jodokus eine Steinkirche in der Einsiedelei errichten lassen, die die Holzbauten ersetzten. Zudem unterstützte er die Kirche mit vielen Gütern. Die Kirche wurde zu Ehren des hl. Marti-nus eingeweiht. Am 13. Dezember 668 starb Jodokus. Bei der Kirche und der Einsiedelei entstand später die berühmte Benediktinerabtei Saint-Josse-sur-Mer und das gleichnamige Dorf. Viele Wunder sollen sich zu Lebzeiten und nach seinem Tode dort ereignet haben. Die Kirche entwickelte sich zu einem bedeutenden Wallfahrtsort und die Verehrung des hl. Jo-dokus verbreitete sich im Laufe der Jahrhunderte über

weite Teile Europas. Und zum bekanntesten Wallfahrtsort zur Verehrung des hl. Jodokus in Deutschland wurde St. Jost in der Eifel.

Erstmals schriftlich erwähnt wurde das Wallfahrtskirchlein St. Jost im Nitztal im Jahre 1436 in einer Grenzbeschreibung. Die erste sichere Beurkundung soll aber erstmals 1464 stattgefunden haben. Das einfache gotische Kapellchen aus dem 15. Jhd. ist der Überlieferung nach eine fromme Stiftung des Grafen von Virneburg als Dank dafür, dass er nach einer Pilgerreise ins ferne Jerusalem gesund und glücklich wieder heimgekehrt war. Dafür spricht auch das Wappen der Herren von Virneburg (aus dem 14. Jhd.) im Gewölbeschlussstein. Einer der Grafen von Virneburg soll später die Reliquie der Gebeine des hl. Jodokus von einer Reise mitgebracht haben. Und nun stand ich selbst in der Kapelle, die dem heiligen Jodokus geweiht war: Der Altaraufsatz, der sich über der Mensa mit den schlichten Rokokokartuschen erhebt, zeigt in der Mitte im unteren Bild eine Krippendarstellung mit der Anbetung der Hirten nach der Geburt Jesu in Bethlehem und im oberen Bild die Anbetung der Heiligen Drei Könige. Der Altar ist mit viel barockem Zierrat versehen. Figuren der Heiligen haben einen Ehrenplatz am Rand des Altaraufsatzes. Im unteren Bereich sind rechts der hl. Jo-dokus in Pilgertracht mit der Hl. Schrift unter seinem linken Arm und einen Pilgerstab

in seiner rechten Hand haltend und links vom Altar St. Quirinus (der Schutzpatron der Pfarrei Langenfeld) dargestellt, während oben die hl. Luzia und St. Katharina stehen. Auf der Spitze des Hochaltars reitet St. Georg zu Pferd. Als kleiner Junge war ich zutiefst beeindruckt von dieser Kunstfertigkeit und Farbenpracht und konnte mich kaum sattsehen. Auch eine alte Holzstatue des hl. Jodokus aus dem 18. Jhd. wird in der Wallfahrtskapelle St. Jost verehrt. Am Altar stand nun ein Pater, der die Reliquie des hl. Jodokus, die in einer Monstranz gefasst war, in den Händen hielt. Zur Verehrung des hl. Jodokus schritten nun die Pilger nacheinander vor und hauchten die Reliquie aus wenigen Zentimetern Entfernung an, wobei der Pater die Monstranz nach jedem Gläubigen wieder mit einem Tuch abwischte. Nach der Verehrung des Heiligen gingen wir nach draußen, blinzelten in der hellen Sonne und schauten uns das Treiben vor den Andenkenbuden an. Hier wurden viele Devotionalien wie Rosenkränze, Büchlein über den hl. Jodokus, Kirchengesangbücher, Kerzen mit Heiligenmotiven, Medaillen aus Aluminium für Halskettchen, Kreuze, gerahmte Bilder vom hl. Jodokus hinter Glas und vieles mehr angeboten. Aber auch Lebkuchenherzen mit buntem Zuckerguss, Wecken, Waffeln, Liebesperlen in winzigen Pup-penfläschchen, farbige Lutscher und bunte Bonbons üb-

Basaltkreuz an der Pilgerstraße nach St. Jost

ten eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Alleine das war schon eine Entschädigung für die weite Anreise und die Mühen des Pilgertages. Ein regelmäßiges Taschengeld war damals nicht üblich, aber ich erhielt von meiner Mutter an diesem besonderen Tag 50 Pfennige Taschengeld zur freien Verfügung und kaufte mir zunächst ein Andenkenbildchen vom hl. Jodokus, dann von dem restlichen Geld Eiswaffeln zum Stückpreis von 5 Pfennigen sowie Lakritzschnecken zum gleichen Preis - ich schwelgte im siebten Himmel. Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Heimweg machten, suchten wir noch die unweit gelegene Quelle auf, um mit diesem „Jodokus-wasser“ unseren Durst zu löschen. Da dem „Jodokusbuhr“ Heilkraft zugeschrieben wurde, befeuchteten wir auch unsere Gesichter mit dem Heilwasser. Nun wurde es Zeit Abschied zu nehmen von diesem Kleinod der Gottesanbe-

tung und wir stiegen auf dem „Peddche“ (dem Pfad) den steilen Hang zurück nach oben. Da dies sehr anstrengend war, legten wir hier eine Betpause ein, bis wir oben die Bergkuppe erreichten. Hier sangen wir das Kirchenlied „Lobet den Herren“ und

schritten betend mit den Worten „Heiliger Jodokus von dir scheiden wir, deine Fürbitte begehren wir“ auf unserem Heimweg. Noch ergriffen von den Erlebnissen dieses Pilgertages dachte ich zurück an die vielen, zahlreichen Pilger, die im Tal der Nitz friedlich im

Glauben vereint aus allen Richtungen Gott gesucht und den Heiligen Jodokus angebetet hatten. Ich hoffte mit meiner Mutter, dass wir alle gesund blieben, damit wir auch im nächsten Jahr wieder eine solche Wallfahrt durchführen könnten.