Heiliger Willibrord, bitte für uns

Gretel Körner-te Reh, Ahlen

Am Dienstag nach Pfingsten im Jahre 1950 durfte ich zum ersten Mal meine Großmutter aus Salm nach Echternach zur Springprozession begleiten. Das war ein großes Ereignis für mich, damals sechs Jahre alt, im Bus unter betenden und singenden Frauen (an mitfahrende Männer kann ich mich nicht erinnern), ins „Ausland“ zu reisen. Zudem bekam ich extra für diesen Anlass einen neuen Mantel aus Popeline. Es war allerdings nur eine abgeänderte Jacke eines Erwachsenen, denn das Geld war knapp nach dem Krieg. Aber es war ein Super-Mantel für mich, er hatte sogar zwei Innentaschen!

Viele Pilger reisten an. Etliche Gruppen kamen zu Fuß, waren zwei Tage unterwegs, um an dieser Dankprozession teilzunehmen. Es herrschte reges Treiben; große, weiße Taschentücher wurden diagonal gefaltet, man fasste sie an den Enden und sprang in Fünferreihen drei Schritte vor und zwei zurück. Musikanten mit Geigen, Flöten, Tamburinen und Akkordeon spielten wundersame Weisen - Polkatöne oder gar eine Melodie wie „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“. Die Springer, junge Männer, folgten mit kräftigen Sprüngen, die Frauen etwas zaghafter. Ganze Familien aus Belgien, Holland, Deutschland, die letzteren vorwiegend von der Saar und aus der Eifel beteten: „Heiliger Willibrord, bitte für uns!“ Bischöfe und Äbte im aufwendigen Ornat begleiteten die Pilger im Umzug durch die mittelalterliche Stadt.

Kaum war der offizielle Teil der Prozession vorüber, stürmten die Menschen in die Geschäfte der Luxemburger. Dort gab es Schokolade und vor allem Kaffee! Keinen Muckefuck! Und dieser Kaffee wurde kiloweise eingekauft und in Rucksäcken und Beuteln verstaut, in Taschen und auch in den Innentaschen meines neuen Mantels. Meine

Großmutter, eine leidenschaftliche Kaffeetrinkerin, mahnte mich, das Mäntelchen schön zugeknöpft zu lassen, bis sie mir eine andere Anweisung erteilen würde. Dann gingen alle zu ihren Bussen. Und nun begann für viele Wallfahrer der aufregendste und spannendste Teil der Reise. Man musste nämlich zuerst noch den Schlagbaum passieren, wo sich die argwöhnischen Zöllner die Taschen-und Rucksackinhalte zeigen ließen. Mit strengem und prüfendem Blick stöberten sie in den Gepäckstücken. Vor allem die „Ersttäter" schwitzten Blut, wurden unruhig und ängstlich.

Was würde ihnen blühen, wenn man sie beim Schmuggeln erwischte? Die uniformierten Spürnasen rochen ja die köstlichen Kaffeebohnen, da musste man die Päckchen kurzfristig schon dick in Tücher verpacken, die eventuell zuvor mit 4711 benetzt worden waren. Oder ließen die Zöllner vielleicht manchmal Milde walten, weil sie ja fromme, „ehrliche“ Pilger vor sich hatten? Ein Kind wie ich trug natürlich keine Tasche und wurde nicht kontrolliert. So war ich wohl als jüngste Schmugglerin erfolgreich, ohne eine Ahnung vom „schändlichen Tun“ zu haben.

Etwa vierzig Jahre später war ich als Prozessions-Beobachterin wieder in Echternach. Es war nicht weniger interessant als früher und doch war einiges anders: Das Springen war in seitliche Hüpfschritte abgewandelt, und das Schmuggeln von Kaffee lohnte sich nicht mehr! Lustig war ein Schild eines Gastwirtes vor seinem Lokal: „Preiswertes Menue à la Prozession". Und die Pilger aus Prüm, die von sonntags bis dienstags unterwegs waren, führten sicher nicht, wie früher geschehen, einen Leiterwagen mit Sarg darauf mit, für den Fall, dass einer der Wallfahrer die Strapazen des Fußmarsches nicht überlebte!