In Gottes Namen wallen wir …

Männerwallfahrt nach Rom und Palästina

Alois Krämer, Bodenbach

Mir kam zum Thema „Wall-fahrten“ diese Ansichtskarte wieder ins Gedächtnis, die ich vor Jahren in einem alten Familienbuch gefunden hatte. Sie war an meinen Urgroßvater gerichtet, trug auf der Vorderseite eine Abbildung der Stadt Nazareth und einen handschriftlichen Text, der wie folgt lautete: „Jerusalem, den 4. X. 1900. Die 500 deutschen Rom-JerusalemPilger hielten hier heute den Einzug und wallfahrten zur Grabeskirche, in welcher der Heiland im Grabe ruhte. Etliche Schritte davon küssten wir den Stein, auf dem Jesus gleich nach seinem Tode gesalbt wurde.

Herzlichen Gruß Johann.“ Auf der Rückseite ist die Adresse: Herrn Johann Josef Rätz in Bodenbach bei Adenau, Rheinland, Germania, vermerkt, sowie aufgedruckt: „Turquie Union Postale Universelle, Carte Postale“, weitere arabische und lateinische Schriftzeichen sowie ein Poststempel „Kelberg“ 19.10.00“.

Diese alte Karte ließ mir also keine Ruhe, und ich versuchte, herauszubekommen, was es eigentlich mit dieser Reise auf sich hatte, und wer dieser „Johann“ nun gewesen war. Vielerlei Nachfragen, Internetrecherchen und ein Besuch bei der Diöze-sanbibliothek in Köln brachten endlich den gewünschten Erfolg. Bei der fraglichen Reise handelte sich um die „Erste Deutsche Männerwallfahrt nach Rom und Palästina“.

Die „hochherzige Schenkung Sr. Majestät des deutschen Kai-sers“ an die deutschen Katholiken im Jahre 1898 (es handelte sich um ein von Kaiser Wilhelm II. erworbenes Grundstück auf dem Sions-berg, auf dem eine gewaltige Marienkirche entstehen sollte) nahm der damalige Papst Leo XIII. zum Anlass, zu frommen Wallfahrten zur Gnadenstätte „Maria Heimgang“ auf dem Berge Sion einzuladen, gleichzeitig aber auch eine Einladung nach Rom, um dort den „Ablass des Heiligen Jah-res“ zu gewinnen. Das PilgerKomitee griff diese Einladung begeistert auf.

Die Reise war von langer Hand vorbereitet; man hatte sich mit höchsten und allerhöchsten Stellen in Verbindung gesetzt, monatelanger Schriftwechsel und endlose Formalitäten hatten nach intensiver Arbeit schließlich zum Erfolg geführt und die erforderlichen Genehmigungen erbracht. Ziel dieser Wallfahrt war es also nicht nur, die heiligen Stätten aufzusuchen, sondern auch der Grundsteinlegung eben dieser neuen Marienkirche beizuwohnen.

Eine Pilgergruppe vor der hl. Grabeskirche

 

Am 24. September des Jubeljahres 1900 standen sie also im Hohen Dom zu Köln vor dem Dreikönigsaltar, die fünfhundert Pilger, aufgeregt, erwartungsvoll, vielleicht auch ein wenig furchtsam, förmlich angetan mit Anzug und Hut, ein Band mit ihrer Pilgernummer am rechten Arm, Köffer-chen oder Reisetasche an der Hand, empfingen sie den Pilgersegen, der sie beschützen sollte auf der weiten Reise nach Rom und Palästina.

Aus allen Schichten der Bevölkerung stammend – Ackerer und Großgrundbesitzer, Pfarrer und Kapläne, Fabrikanten und Sanitätsräte, Kaufleute und Handwerker – und allen Gegenden des Kaiserreiches waren sie gekommen. Nebenan im Bahnhof stand qualmend und zischend der Sonderzug bereit, der sie hinausführen sollte ins „gelobte Land“. Unter den Pilgern befand sich ein Lehrer mit Namen Johann Bastges, Leiter der Schule in Metternich bei Münstermaifeld, ein Bruder der Urgroßmutter Anna Maria Rätz, die in Bodenbach verheiratet war.

Dieser Johann Bastges, gebürtiger Kelberger, war es also, der dem Urgroßvater damals die Karte nach Bodenbach schrieb. Der Sonderzug fuhr um 5.20 Uhr ab Köln über Bonn, Koblenz, Münster am Stein, Straßburg, Basel, Luzern, Göschen, Chiasso Mailand nach Genua, wo er um 11.06 Uhr des folgenden Tages eintraf. Ein großer Dampfer, die „Am-phitrite“, lag im Hafen bereit, die fünfhundert Passagiere aufzunehmen. Um 12 Uhr mittags legte das Schiff ab und sollte anderntags morgens um 5 Uhr Civitavecchia erreichen, von wo aus ein Extrazug die Pilger nach Rom bringen sollte. So ganz hat das denn zeitlich nicht geklappt, denn die Audienz beim Hl. Vater, die am gleichen Tag für einhalb elf Uhr geplant war, wurde versäumt, da das Schiff für die Überfahrt länger brauchte als geplant.

Nach Quartiernahme und Messe im Petersdom, Besichtigungen der vielen Kirchen, der Katakomben, Hl. Stiege, Colosseum, Capitol, Forum Romanum usw., auf Wegen, die – anders als heute – vielfach zu Fuß oder zu Wagen unternommen wurden, kam eine weitere Audienz später doch noch zustande (hilfreich mag dabei gewesen sein, dass die große Pilgergruppe lange vorher angemeldet und von honorigen Geistlichen begleitet war). So geistig gestärkt, päpstlich gesegnet und mit gutem Mut weiterhin versehen, bestieg man am Freitag, dem 28. September 1900, am Bahnhof Travestere wieder den Zug nach Civitavecchia, wo das Schiff vor Anker lag. Nun begann ein weiterer Höhepunkt der Reise: die Reise ins Heilige Land. Wie mag manch einem das Herz geschlagen haben bei dem Gedanken daran, all die heiligen Stätten leibhaftig vor Augen zu sehen, die man nur aus der Bibel kannte.

Das Schiff legte abends ab und man richtete sich so gut ein, wie es eben möglich war. Täglich wurden heilige Messen mit langen Predigten abgehalten, und es wurde viel gebetet und gesungen. Am 4. Oktober 1900 schließlich erreichte man Jaffa, das „Eingangstor zum Orient“. Dort stieg man in einen Sonderzug, der die Reisenden nach Jerusalem brachte. Lassen wir den Redakteur Konrad Sixt, der den Pilgerzug seinerzeit begleitete, selbst berichten: „Es war ein freundlicher Empfang, der uns am kleinen Stationsgebäude geworden, welches in deutscher Aufschrift den Namen „Jerusalem“ trägt.

Bei der Einfahrt schon gewahrten wir linker Hand zahlreiche Häuser, auf denen die deutsche Flagge wehte, unter den Thüren und auf den Altanen dieser Häuser stunden die Bewohner der Deutschen Kolonie, die ihren Landsleuten durch Tücherschwenken herzliche Willkommensgrüße entboten. Als wir dem Zug entstiegen, standen der deutsche Consul, die schönuniformierten Cawassen (Amtsdiener) des Consulats, die Dragoma-ne, die Abgesandten der Franziskaner, der Assumptioni-sten, Lazaristen etc. zur Begrüßung der deutschen Pilger am Bahnhof.

An der Spitze des langen Zuges unsere schöne Pilgerstandarte, die jetzt begleitet war von den Cawassen, zogen wir in der Sonnengluth und in tiefem Staub unter Liedergesang und Gebet vom Bahnhof weg zur Stadt. Leute mit schwarzen, weißen, braunen Gesichtern und in den kuriosesten Trachten stehen in Menge auf den Straßen, den Einzug der deutschen Pilger zu betrachten. Viele Pilger küßten in Ehrfurcht den Boden, und wohl alle hatten sich vorgenommen, in tiefster Andacht zur heiligen Stätte zu ziehen; allein der ungewohnte Anblick all des Fremdartigen, das Gewirr in den Straßen, der zu passierende holperige Weg, die vielen Eindrücke des Augenblicks, hielten die Sinne förmlich gefangen.

Da lag ein von der überschweren Last zu Boden gedrücktes Kameel mitten auf der Straße, hemmte den Verkehr, schrie und biß wüthend um sich; hier liefen belästigende ‚Bakschisch’-Bettler herbei, rasend schnell fahrende Carossen wirbelten dichten Staub auf, die arabischen Kutscher vollbringen ein fürchterliches Geschrei; da lenkt eine Reihe von 41 Kameelen, eins nach dem anderen wie im „Gänsemarsch“ ziehend, die Aufmerksamkeit auf sich u.s.w. Wie sehr ist man doch enttäuscht, wenn man Jerusalem betritt!

Großartig ist der Gesammtanblick von außen, elend aber, ärmlich und erbärmlich ist das Innere der Stadt.“ An dieser Beschreibung kann man unschwer erkennen, dass eine gewisse Ernüchterung die lebhafte Vorfreude abgelöst haben mag, als die Pilger die Stadt zum ersten Mal sahen. Doch nachdem sie ihre Quartiere in Hospizen, die von verschiedenen europäischen Ländern in Jerusalem unterhalten wurden, bezogen und die erste Mahlzeit eingenommen hatten, kam die Freude zurück, endlich am Ziel zu sein und die heiligen Stätten in Wahrheit zu erleben.

Der Autor berichtet über diesen Tag weiter: „Um 4 Uhr war mit Fahne gemeinsamer Einzug der deutschen Pilger in der Kirche des heiligen Grabes. … und so beteten wir, in einer engen Straße stehend, fast zwei Rosenkränze, bis der lange Zug sich geordnet in Bewegung setzen konnte. Mohamedaner- und Arabervolk stand in großer Menge am Platze, unsern Einzug zu schauen. Es war 5 Uhr, als wir das Glück genossen, zum erstenmale die Kirche des hl. Grabes betreten zu dürfen. Welch’ ein unvergesslicher Augenblick! Mit gerührtem Herzen und thränenglitzern-den Augen ziehen wir ein in das größte Heiligthum der Welt, in welchem sich die heiligsten Stätten, der Calvarien-berg und das Grab des Heilandes befinden. Den Gefühlen des Dankes und der Freude geben wir Ausdruck in Absingung des mächtig brausenden ambrosischen Lobgesanges: ‚Großer Gott, Dich loben wir!’“

Der Autor ergeht sich noch lange in ausführlichen und bildreichen Schilderungen des ersten Besuchs der Kirche und der darin gehaltenen Andacht. Seine Lobpreisungen sind jedoch echt und aufrichtig, sind auch Freude und Dankbarkeit, die Reise bis dahin so gut überstanden zu haben. An diesem Tag also schrieb Johann Bastges, noch ganz ergriffen von dem Großartigen, das er erleben durfte, die denkwürdige Karte an den Urgroßvater, die hundert Jahre später in dem alten Buch gefunden werden sollte. Der Autor berichtet weiter von „Schmutz und Unreinlichkeiten“ des Ortes, von „Thierkadavern“, die bedeckt von Fliegenschwärmen auf den Straßen liegen, und vom fürchterlichen Gestank, der die Nasen beleidigt.

Der fünfzehnte Reisetag war inzwischen angebrochen, und nach einem lange vorher fest-gelegten Plan und in Gruppen von je hundert Wallfahrern wurden die historischen Stätten und christlichen Orte in und rings um Jerusalem besucht: die Kirchen, den Tempelplatz, Ölberg, Bethlehem mit Geburtskirche und Hirtenfeld. Jeden Tag wurde eine heilige Messe gefeiert, wie all die Tage zuvor, und jeden Tag predigte ein anderer aus der geistlichen Pilgerschaft. Am Sonntag, dem 7. Oktober 1900, sollte die Grundsteinlegung der Kirche Maria Heimgang auf dem Berge Sion stattfinden.

Samstags erst war dazu erst aus Konstantinopel (!) die Erlaubnis eingetroffen. Man hatte sehnlichst darauf gewartet und in aller Eile wurden nun die Festvorbereitungen getroffen. Die fünfhundert Pilger zogen in einem langen Zug zum Platz der Grundsteinlegung, der mit Girlanden und Fahnen festlich geschmückt war und auf dem Sonnenzelte für die Sitzplätze der Honorationen (darunter auch der Abt von Maria Laach, Willibrordus Benzler O.S.B.) errichtet worden waren.

Zum Ende der Reise macht eine kleinere Schar einen Ausflug an den Jordan und zum Toten Meer. Auf der Rückfahrt nach Jerusalem hätte es beinahe einen tödlichen Unfall gegeben, denn der Kutscher, der den Wagen lenkte, trieb die Pferde so ungebührlich an, dass eines der beiden Zugtiere auf einem schmalen Bergpfad ausglitt, stürzte und das Gefährt mit sich riss. Der Wagen kippte um, und um Haaresbreite wären die Insassen in die gähnende Tiefe des Bergabhangs hinabgestürzt. Eines der Pferde war so schwer verletzt, dass es von seinen Qualen erlöst werden musste, und lange dauert es, bis ein anderer Wagen vorbeikam, der die Passagiere aufnehmen konnte.

Mit erheblicher Verspätung und von den anderen Mitpilgern vermisst, erreichten sie schließlich Jerusalem. Die Fahrten der Pilger zu den heiligen Orten wurden mit Kutschen vorgenommen, auf Pferden reitend oder sogar mit Eseln, je nachdem, wie weit die zurückzulegende Strecke war. In der angeführten Literatur ist oftmals darauf verwiesen worden, dass mehr als einmal gefährliche Situationen durch die Fahrweise der Kutscher entstanden waren.

Vom lebhaftesten Verkehr in Jerusalem wurde berichtet, was für uns leicht belustigend klingt. Doch es wird schon so gewesen sein: die Straßen schmal und schlecht, Menschen mit Lasten, freilaufende Tiere allenthalben, vorbeiziehende Kamelzüge und dazwischen die Pferdefuhrwerke – das war wohl oft recht nicht geheuer. Am 13. Oktober trat man die Rückreise an; mit dem Zug ging es wieder nach Jaffa, dort bestieg man das Schiff und fuhr in fünf Tagen nach Genua. Mit dem Zug gelangte man am Freitag, dem 19. Oktober 1900 wieder nach Köln. Die Jerusalempilger erhielten von Papst Leo XIII. gestiftete Ehrenkreuze, in Gold, Silber oder Bronze. Um eines dieser Kreuze zu erhalten, musste der Pilger jedoch zuvor eine Bescheinigung seines Heimatpfarrers über einen christlich-frommen Lebenswandel vorlegen.

Diese Kreuze durften auch nur an hohen Feiertagen angelegt werden. Wenn ich nun diese Wallfahrt vergleiche mit der Reise, die wir fünfundneunzig Jahre später unternommen haben, so fehlte unserer Pilgerfahrt wohl das Abenteuerliche, Kühne, Waghalsige der früheren Zeit. Doch wir haben wahrscheinlich genauso ergriffen vor den historischen Stätten gestanden wie die damaligen Wallfahrer. Sicher, das heutige Jerusalem ist modern, großstädtisch, das Leben in den Basaren hat sich kaum verändert. Die Reise dorthin und wieder zurück, per Flugzeug und modernem Reisebus vor Ort, war sehr bequem und längst nicht so strapaziös wie damals.

Wenn die damaligen Wallfahrer große Angst vor Unglücken und Überfällen hatten, so hat der moderne Mensch aber auch noch Angst – vor Gewaltstreichen ganz besonderer Art. Ich werde nicht vergessen, mit welcher Akribie wir auf den Flughäfen in Frankfurt und Tel Aviv befragt und durchsucht wurden, dass wir uns in den israelischen Läden Taschenkontrollen unterziehen mussten, und wie bedrohlich uns beim Verlassen der Geburtskirche in Bethlehem der riesige Menschenauflauf auf dem Vorplatz erschien, eine Demonstration der Palästinenser, die durchaus hätte ausufern können. Die Terrorangst – eine immer noch stetig wachsende Gefahr des modernen Reisens – herrscht heute gerade auch in diesem unruhigen Land immer noch fort.