Der tapfere kleine Junge

Tamara Retterath, Lirstal

Eines sonnigen Mainachmittags, der viel zu schön war, um ihn drinnen zu verbringen, entschloss ich mich – obwohl ich eigentlich noch genügend Arbeit im Haus zu erledigen gehabt hätte – zu einem Spaziergang durch die herrliche Eifellandschaft. Ich musste einfach mal raus in die Natur und genoss das Durchschreiten eines Wiesentals. Hier grasten einige Kühe ihr erstes frisches sattes Grün. Das Vieh konnte sich innerhalb eines Elektrozaunes frei bewegen. Doch in vergangenen Zeiten waren die Weiden wohl nicht immer so eingezäunt. Unabhängig davon, dass es früher noch keine Elektrozaunbatterien gab, lebten in der Eifel damals überwiegend Kleinbauern, die leider nicht über das notwendige Geld verfügten, um alle ihre Wiesen mit Stacheldraht einzuzäunen. Üblich war, dass das Vieh mittels einer 4-5 m langen Kette, an einem in die Erde getriebenen Pfahl, angebunden war. Dieser Pfahl musste mehrmals am Tag „umgepfloggt“ werden, um die Tiere satt zu bekommen. Dies war meist Aufgabe der Kinder.

Und da erinnerte ich mich an eine Geschichte, die mein Vater mir einmal erzählt hatte. Er berichtete mir, dass es früher kaum Weidezäume gab und höchstens „der Pesch“ eingezäunt war. Als „Pesch“ wurde ein Weidegrundstück bezeichnet, welches entweder direkt am Wohnhaus gelegen war oder sich gleich am Rand des Dorfes befand. In dem Heimatort meines Vaters wurde so eine kleine Wiesenparzelle genannt, in der das Vieh vorübergehend oder für kurze Zeit versorgt werden konnte. Die Wiese war mit Querrundhölzern eingezäunt, das heißt, alle 3–4 m war ein Pfosten in die Erde gelassen und an diese Pfosten kamen waagerecht mehrere dünnstämmige Fichtenstangengehölze, die man bei der Durchforstung im Wald eingeschlagen hatte, wobei die daran befindlichen Äste vorher einzeln mit der Axt entfernt worden waren. Dabei waren die Rundhölzer jedoch nicht so sauber verarbeitet wie in der heutigen Zeit, sondern sie blieben in der Stammdicke wie sie gewachsen waren: oben etwas dünner und unten stärker. Im Verlauf der Zeit fiel jedoch die Rinde der Hölzer ab und so ergab es sich, dass an den Stellen, an denen die Rinde abgefallen war, ein ca. 1 – 2 cm langer Astansatz zum Vorschein kam. Und gerade solch ein herausstehender Astansatz wurde meinem Vater als kleinen Jungen im Vorschulalter zum Verhängnis: Das Wetter muss wohl so schön wie heute gewesen sein: ein sonniger und warmer Nachmittag im Mai. In seinem Zimmer hatte er sich als Kleinkind ein Maialtärchen hergerichtet. Früher war es üblich, dass die Kinder eine Muttergottesstatue im Marienmonat Mai im Schlafzimmer oder einem anderen Raum des Hauses besonders platzierten und sie schmückten diese Altärchen dann mit selbst gepflückten Blumen. So war es damals Brauch in fast jedem Haushalt im Dorf, da man der Muttergottes im Wonnemonat Mai eine besondere Ehrung zuteil werden ließ. Als Kind hatte mein Vater eine solche Madonna auf dem Speicher seines Elternhauses in einer Truhe gefunden und seine Mutter gebeten, diese für sein Maialtärchen verwenden zu dürfen. Dabei handelte es sich um eine Rauchglasfigur mit einem weinroten Herz auf der Brust. Stellte man hinter die Madonna auf den hierfür vorgesehenen Platz eine brennende Kerze, dann strahlte die ganze Madonna in einem leuchtenden Weiß und das Herz leuchtete in einem kräftigen wunderschönen Purpurrot.

Nun war es seine Aufgabe, diese Muttergottesstatue mit Blumensträußen zu schmücken und er achtete, wenn er draußen in der Natur war, besonders auf die schönen Blumen, die jetzt im Mai blühten. Eines Tages führte ihn sein Weg durch Zufall an einem Wasserhochbehälter vorbei. Rund herum waren wohl früher Aufschüttungen vorgenommen worden, auf denen die Pflanzen besonders schön in der warmen Frühlingssonne gedeihten. Daher entdeckte der kleine Bub dort wunderbar tiefblau blühende Veilchen. Hier konnte er nicht widerstehen. Er musste sofort ein Sträußchen für sein Maialtärchen zuhause mitnehmen. Als er den kleinen Blumenbund gepflückt hatte, lief er voller Stolz auf dem direkten Weg nachhause, um ihn schnell seiner Mutter zu zeigen. Hierbei nahm er eine Abkürzung und wollte gleich quer über „den Pesch“ laufen und zwar unter die Zaunverlat-tungen durch. Dort war er schon öfter durchgekrochen, hatte sonst jedoch beide Hände frei gehabt, um sich abzustützen. Aber diesmal hielt er in der rechten Hand sein Sträußchen und konnte sich jetzt nur links abstützen. Bei der schnellen Kriechbewegung unter dem Zaun und dem anschließenden Aufrichten ist es dann passiert. Dabei geriet er mit dem Kopf an einen, sich unglücklicherweise genau an dieser Stelle befindlichen, nicht komplett entfernten Astansatz und verletzte sich daran. Als er unter dem Zaun durch war, merkte der Bub zunächst nichts, spürte nur etwas Feuchtes am Kopf, hatte aber noch keine Schmerzen und glaubte, es sei bloß etwas Schweiß.

Nachdem er einige Schritte weiter war, fasste er sich mit seiner linken Hand an den Kopf und sah das viele Blut daran. Nun begann das Blut auch schon in Strömen zu laufen. Als er zuhause ankam, war das Gesichtchen des kleinen Kindes bereits blutüberströmt und nachdem seine Mutter ihn erblickte, erschrak sie so sehr, dass sie einem Ohnmachtsanfall nahe war. Es muss wohl sehr lebensbedrohlich und schrecklich ausgesehen haben, wie man ihm später erzählte: fast so, als sei der halbe Kopf abgerissen. Trotz allem hielt der Bub sein Veilchensträußchen immer noch krampfhaft in der rechten Hand. Der kleine Junge hatte sich die Kopfhaut so weit aufgerissen, dass dadurch ein aufgeklappter Winkel entstand, der im allgemeinen Sprachgebrauch „eine Fünf“ genannt wurde. Nun war guter Rat teuer. Wir schrieben das Jahr 1946. Und es gab damals in der schweren Zeit weder Desinfektionsmittel noch Verbandstoffe im Haus. Seine Mutter musste notdürftig ein Bettuch zerschneiden, damit eine provisorische Blutstillung erreicht wurde. Um eine bessere Lösung zu finden, schwang sich sein Vater, der erst vor kurzem aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, so schnell er konnte aufs Fahrrad und fuhr in den 2 km entfernten Nachbarort zum Patenonkel des Buben, der im Krieg Sanitäter gewesen war. Den Patenonkel konnte er glücklicherweise in seinem Heim erreichen, dieser war aufgrund einer Beinamputation kriegsversehrt. Der Vater des verletzten Jungen wollte von ihm einen Rat einholen, was nun zu tun sei. Als ehemaliger Sanitäter war der Patenonkel erster Ansprechpartner in gesundheitlichen Belangen für die Region. Leider praktizierte in der näheren Umgebung kein Arzt. Der nächste Arzt war erst in 10 km Entfernung in Kelberg zu erreichen und die Bevölkerung war damals nicht motorisiert wie heute, in der man solche Distanzen schneller bewältigen kann. Öffentliche Verkehrsmittel gab es damals in der hiesigen Region ebenfalls nicht. Einige Zeit später erschien der Vater wieder zuhause bei seinem verletzen Kind und hatte einige Mullstücke und Verbandstoffe dabei, um die Blutstillung zu verbessern. Nachdem der Vater dem Patenonkel die Situation ausführlich geschildert hatte, hatte dieser zugesagt, den zuständigen Arzt sofort über die Verletzung des Jungen zu informieren, denn nur ein Arzt könne die Situation in den Griff bekommen. Das hatte er auch sofort erledigt. Der Arzt wollte den verletzten Jungen aufsuchen, dies nahm natürlich einige Zeit in Anspruch.

Doch die nun schmerzende Wunde war für das kleine Kind fast nicht auszuhalten. Man versuchte den Jungen mit allen möglichen Sachen zu verwöhnen und abzulenken. Die Mutter sagte immer wieder: „Wenn der Onkel Doktor gleich kommt, dann wird alles wieder gut!“ Aber bis der Arzt endlich bei dem verletzten Buben ankam, waren schließlich 3 Stunden vergangen und es war draußen bereits dunkel. Nachdem der Arzt ins Haus eingetreten war, erklärte er zunächst sein spätes Erscheinen. Als Arzt war er zwar in der besonderen Lage, ein Auto mit Holzvergaser zu besitzen, doch hatte man hier eine gewisse Wartezeit in Kauf nehmen müssen, da er für die Fahrt erst noch Holzstückchen hatte schneiden müssen, um seinen Wagen in Betrieb zu setzen. Denn in der Nachkriegszeit bestand ein akuter Mangel an Benzin oder Diesel, so dass die Automobile auf Holzgas umgestellt waren. Dann erkundigte sich der Arzt genau, wie das Ganze passiert war und sah sich die Wunde einmal richtig an. Der Junge hörte den Arzt sagen: „Die Wunde muss mit Stichen genäht werden.“, und das Kind wurde auf den Küchentisch gesetzt. Zu dem üblichen Licht musste noch eine Zusatzbeleuchtung angebracht werden, damit der Arzt günstigere Arbeitsbedingungen hatte und besser sehen konnte. Der Bub hatte Schmerzen, doch – was er nicht wusste –, nun ging die Prozedur erst richtig los. Der Vater des Kindes wurde vom Arzt beauftragt, den Jungen bei dem ärztlichen Eingriff festzuhalten. Der Kleine hatte bei seinen ganzen Schmerzen nicht geweint, weil er ja schon ein Mann sein wollte und in seiner kindlichen Naivität glaubte, der Arzt würde ihm jetzt die Schmerzen sofort auf Anhieb nehmen. Doch dem war natürlich nicht so! In dieser schlechten Zeit nach dem Krieg standen auch dem Arzt weder schmerzstillende noch Betäubungsmittel zur Verfügung. Nun sollte die Wunde mit Stichen geschlossen werden. Als der Arzt begann, hatte der Bub höllische Schmerzen, riss sich aber stark zusammen und hat weder geklagt noch geweint. Er versuchte sich von seinen Schmerzen abzulenken, indem er – da er ja im oberen Körperbereich ruhig sitzen bleiben und den Kopf still halten musste – unten seine Zehen krampfhaft in bestimmte Richtungen mal auf und ab und dann wieder in einem Rhythmus hin und her bewegte.

Weil die Mutter während der langen Wartezeit auf den Arzt immer vom „Onkel Dok-tor“ gesprochen hatte und „Onkels“ nach seinem kindlichen Erfahrungsschatz stets ein paar Mitbringsel verschenkten, wenn sie ins Haus kamen, hoffte der kleine Junge am Ende der Prozedur darauf und dachte, je tapferer er sei, desto größer würde am Ende das Geschenk ausfallen. Deshalb gab er keinen Mucks von sich und wollte besonders tapfer sein. Während des Nähens stellte der Arzt beim Vater, der seinen Sohn hielt, fest, dass es dem Vater unwohl wurde, da dieser das ständige Einstechen der Kopfhaut nicht länger mitansehen konnte. Daraufhin schickte der Arzt den Vater hinaus und sagte: „Der Junge ist so brav und lieb, ich brauche keinen, der ihn festhält.“ Der Vater wollte jedoch seinen Sohn nicht alleine lassen und schickte stellvertretend die Mutter hinein. Während der gesamten Tätigkeit kamen immer lobende Worte des Arztes, was das ruhige Verhalten des Kindes anbelangte. Es waren viele Stiche notwendig und der gesamte ärztliche Eingriff dauerte für den Buben recht lange. Nachdem der Arzt fertig war, sprach er den Jungen direkt an und sagte: „Dich werde ich allen Kindern zum Vorbild machen.“, und zu den Eltern gewandt: „Das habe ich noch nie erlebt, dass ein Kind einen solch schmerzhaften Eingriff so ruhig ausgehalten hat.“ Während der Arzt seine Utensilien einpackte, hatte der kleine Bub noch immer gehofft, der „Onkel Doktor“ würde ihm gleich eine Kleinigkeit zukommen lassen. Deshalb war er sehr enttäuscht, als sich der Mediziner von ihm und seinen Eltern ohne eine kleine Belohnung verabschiedete. Später wurde er – selbst noch als Erwachsener – des öfteren vom Friseur auf diese Narbe angesprochen, denn sie erkundigten sich stets neugierig über die Herkunft derselben. Er selbst hat seine eigene Narbe bis heute nicht einsehen können, da er sich selbst ja schlecht auf den Kopf gucken konnte.