Meine Begegnung

mit alten Eifeler Tugenden

Mathilde Gros, Eltville

Im Sommer 1945 ging ich von Gerolstein mit meiner Mutter zum Hamstern nach Bodenbach, ihrem Heimatort. Danach blieb ich noch drei Wochen bei einer uns bekannten Familie, um bei der Feldarbeit zu helfen. Als Lohn hierfür erhielt ich mein Essen und das Bett. Mit der Tochter dieser Familie, die ein wenig älter war, verstand ich mich gut, vom ersten Tage an. Bald fiel mir die Wortkargheit ihres Vaters auf. Nach ein paar Tagen fragte ich sie, ob er etwas gegen mich habe, weil er bislang kaum drei Worte an mich gerichtet hatte. „Nein“, erklärte sie, „hast du schon mal gehört, dass er mit uns spricht? Er ordnet doch nur immer an, was gearbeitet werden soll.“ Neben dieser mir ungewohnten Wortkargheit begegnete mir auch die Genügsamkeit an jenem Samstag, als ich einen alten Onkel meiner Mutter besuchte, der im selben Dorf lebte. Er war bereits im vierundachtzigsten Jahr, nie zuvor hatte ich ihn gesehen. Mutter, die ihn „Ühm Jockem“, also Onkel Jakob nannte, hatte mir zwar oft von ihm erzählt. Er lebte in einem sehr alten Bauernhaus bei seiner Tochter. Sein Zimmer lag im ersten Stock. Es führte eine schmale steile Treppe dahin hoch, die zu begehen schon abenteuerlich genug war, denn es gab kein elektrisches Licht. Die Stufen tastete ich mich im nahezu völligen Dunkel hoch, fühlte oben eine Tür, an die ich anklopfte. “Herein!“ sagte eine klanglose Altmännerstimme. Die Tür ächzte beim Öffnen, wie es alte Türen in ungeölten Angeln tun und schliff dabei über den Boden. Obwohl draußen die Sommersonne hell schien, hatte ich Mühe den Großonkel zu erkennen, derart dunkel war es im Raum mit der niedrigen Decke. Die einzige Lichtquelle war ein Fensterchen, nicht einmal groß genug, um den Kopf durchzustecken. Ich versuchte so gut wie möglich, meine Bestürzung über seine Behausung zu verbergen, begrüßte den Onkel und stellte mich vor. Er freute sich offensichtlich sehr über meinen so unerwarteten Besuch und fragte interessiert nach meiner Mutter und der Familie. Er bot mir auch gleich den Stuhl an, auf dem er gesessen hatte, er setzte sich auf den Bettrand. Inzwischen hatten meine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt. Außer dem Bett mit der dunkelroten Decke gab es noch einen zweitürigen dunklen Kleiderschrank neben einem einfachen Tischchen, auf dem ein Rosenkranz mit schwarzen Perlen lag. Die Wände schienen vor langer Zeit einmal weiß gekalkt worden zu sein, hinter dem Kopfende seines Bettes hing ein kleines Sterbekreuz. Der Fußboden schien aus rohen Brettern gezimmert zu sein, die aber an vielbegangenen Stellen ausgetreten waren. Ich war jung, gerade mal 17 und wusste, draußen pulsiert das bunte Leben – aber hier drinnen herrschte in Abgeschiedenheit die Enge und die Stille, die Entbehrung und die Einsamkeit einer Mönchszelle. Das alles ging mir durch den Kopf, aber ich konnte ihm das unmöglich sagen und fragte meinen Großonkel nur, ob es ihm hier nicht zu dunkel sei. Nein, meinte er, die Augen taugten ohnehin nicht mehr zum Lesen, eine Brille habe er sowieso nicht. Darauf musste ich mich erst fassen und wagte dann die nächste Frage, ob er denn den ganzen Tag so dasitze? Er erwiderte: „Ja, denn ich kann leider nicht mehr nach draußen, um auf dem Feld oder im Stall zu schaffen. Meine Beine wollen einfach nicht mehr“. Es klang fast sanft, ohne jeden klagenden Unterton. Ich war betroffen und gleichzeitig zutiefst beeindruckt von diesem genügsamen alten Menschen, der gewiss viel und schwer in seinem langen Leben gearbeitet hatte – bis er nicht mehr konnte. Wie so viele Eifeler seiner Generation, die ohne spätere Rente ihr Leben lang in der Landwirtschaft tätig waren. Es war mein erster Besuch, leider auch der letzte bei diesem bemerkenswerten Menschen, meinem Großonkel Jakob. Er starb einige Wochen später. Sein Haus wurde abgerissen. Ein Neubau steht heute an dieser Stelle. Auch wenn sein Grab heute längst eingeebnet ist, dieser kleine Bericht soll eine Erinnerung an ihn sein.
Denn ich weiß noch gut, wie er – wie alles – einmal war.