Auch ich bin eine Mutter

Karl Harings, Steffeln

Nach meinem interessanten Berufsleben bin ich nun ab und zu ehrenamtlich als SES (Senioren-Experten-Service) im Ausland in meinem früheren Beruf als Entwicklungshelfer tätig. Wir sind in über 130 Ländern in der ganzen Welt tätig und unsere Aufgabengebiete umfassen fast alle Fachbereiche. Mein letzter Einsatz war in Mosry zwischen Minsk und Kiew in einer Produktionsanlage für Holztüren.

Im Rahmen der RusslandBerichte aus dem 2. Weltkrieg hatte ich bereits viel über die Kämpfe in der Region der Pripjetsümpfe in Erfahrung gebracht. Und nun wurde ich als Entwicklungshelfer für diese Region angefordert, von der ich bereits einiges über die Schrecken des Krieges gelesen hatte.

Da ich der russischen Sprache nicht mächtig bin, war ich vor Ort ständig auf eine Dolmetscherin angewiesen. Dieser gegenüber äußerte ich einmal den Wunsch, einen deutschen Soldatenfriedhof aus dem 2. Weltkrieg aufzusuchen, um dort eine Kerze anzuzünden. Das war nicht ganz einfach, denn der nächste deutsche Soldatenfriedhof war in Kiew, 200 km südlich von Mosry.

Doch wie überrascht war ich nach einem Sonntagsgottesdienst in einer russischorthodoxen Kirche, als die Dolmetscherin mir eine ältere Frau vorstellte. Sie war die Mutter des Betriebsleiters, für den ich als Entwicklungshelfer tätig war und im 2. Weltkrieg als Zwangsarbeiterin in Deutschland tätig. Als ich sie fragte, wie es ihr damals in Deutschland ergangen wäre, sagte sie: „Wir mussten viel und hart arbeiten und die Luft war ungesund. Wir haben oft gehungert, aber die Deutschen hatten auch nicht immer satt zu essen.“ Zwei Tage vor meiner Abreise teilte mir die Dolmetscherin eine weitere Überraschung mit. Sie hatte über Bekannte erfahren, dass sich in der Nähe eines Dorfes das Grab eines deutschen Soldaten befand, das wir besuchen könnten.. Ich könnte es besuchen, wenn ich wollte. Gerne stimmte ich diesem Angebot zu. Ich packte meine Grabkerze ein und dann fuhren wir los. Zunächst zu der Bekanten meiner Dolmetscherin am Ortsrand von Mosry, dann weiter über ausgefahrene Feldwege in ein russisches Dorf mit seinen typischen Holzhäusern. Hier erwartete uns bereits eine etwa 60 Jahre alte russische Frau mit Kopftuch und Schürze. Sie wusste, wo das Grab sich befand - in einem Gebüsch am Waldrand. Wir fuhren sofort hin zu diesem Waldstück und fanden dort tatsächlich in einem Gebüsch versteckt ein Kreuz aus Stahlrohr. Und dort erfuhr ich dann auch über die Dolmetscherin die Geschichte dieses Grabes:

Bei den Kämpfen am Pripjet wurde ein deutscher Soldat schwer verletzt und bei einer russischen Familie untergebracht. Er wurde von der Mutter jener Frau gepflegt, die uns zu dem Soldatengrab hinführte. Die deutschen Truppen mussten dann fluchtartig das Dorf verlassen und ließen ihren verletzen Kameraden bei der russischen Familie zurück. Diese versteckte ihn und pflegte ihn weiter. Jedoch verschlechterte sich sein Zustand zunehmend.

Nach einigen Tagen lag er im Sterben und hat dabei immer nach seiner Mutter gerufen. Die russische Frau versuchte ihn zu trösten, indem sie ihm antwortete: „Ich bin auch eine Mutter.“

Als der deutsche Soldat verstorben war, hatte die Familie ihn unbemerkt von den russischen Truppen hier im Wald begraben – allerdings ohne Kreuz. Erst Jahre später, als der Krieg längst vorbei war, errichtete man auf dieser Grabstelle ein Eisenkreuz.

Ein kleines Metallschild wurde angebracht, auf dem in kyrillischen Buchstaben der Spruch stand: „Mensch bleibe stehen, denn hier ist ein junger Mensch begraben.“ Es war für mich ein bewegender Moment, als die Dolmetscherin mir den Text übersetzte und ich meine Kerze auf das Grab stellte. Den Besuch dieses Grabes und die empfindungsvollen Worte der russischen Frau „Ich bin auch eine Mutter“, werde ich wohl nie vergessen.