Die Bitte

Ute Bales, Freiburg

Am Tag vor St. Barbara, den 3. Dezember 1785, entschloss sich Mathias Merges, ob seiner immer armseliger werdenden Lage als Lehrer und Pfarrherr zu Mürlenbach und Lissingen im Kylltal, einen Brief zu verfassen, um den Amtsverwalter in Trier über seine Nöte in Kenntnis zu setzen.

Bereits in der Woche vor Erntedank hatte er beim Vikar um Vorstellung angefragt, war auch eingelassen worden, fand aber nicht die rechten Worte und ließ sich mit ein paar belehrenden und nichtssagenden Floskeln abspeisen. Der Ärger über diese unnütze Unterredung war ihm hartnäckig im Halse stecken geblieben und er wollte sich nun brieflich Luft machen. Nein, er musste nicht nur eine Verbesserung seines Gehaltes erreichen, sondern auch Vorschläge machen zwecks Hebung der Lage in den Dörfern und der weit verstreuten Siedlungen, die ihm, als Hirte der Seelen, anvertraut waren. Saß doch die Not hinter jeder Tür, nährten die mageren Wiesen kaum Mensch und Vieh. Arg war es ihm, den Amtsverwalter mit einer Schilderung seiner misslichen Lage zu belästigen, aber unabdingbar. Denn, das glaubte Merges, allein in dessen Gesinnung läge es, ihn in einen Stand zu versetzen, der es erlaube, sich ehrlich und redlich zu nähren, um nicht am Bettelstab zu enden. Den ganzen Mittag schon sann er über die rechte Wortwahl nach, die rechte Darstellung, hatte auch einiges zu Papier gebracht, was er allerdings mehrfach verwarf, denn schwer fielen ihm die Sätze, die Bitten, und immer wieder strich er in seinem Geschriebenen herum, drehte, verbesserte und ergänzte die Einzelheiten, notierte seine Gedanken mit geschwungener Feder über und unter den Zeilen.

Bis zum späten Nachmittag war ihm immer noch kein schlüssiger Wortlaut eingefallen und er betete darum, dass ihm die richtige Eingebung auf dem Weg zu seinen Lis-singer Seelen kommen möge, denn er hatte eine Andacht zu halten, in St. Margareten, zu Ehren der Hl. Barbara. Draußen hatte es geschneit und als er vor seine Hütte trat, waren die Wege kaum auszumachen. Es würde ein beschwerlicher Gang werden diesmal, aber was war nicht beschwerlich in seiner Lage? Er kam nur langsam voran, denn obschon der Schnee stark verweht war, hinderte ihn ein scharfer Nordost, der ihm schneidende Kälte ins Gesicht blies. Gedankenschwer zog er den Umhang fester, hielt sich ein fadenscheiniges Tuch vor Mund und Nase, stapfte mit seinen derben Schuhen durch den Harsch, der in tausend Funken um ihn herum wirbelte, und gedachte seinem Bittschreiben.

Als ihn der Kyllwald umfing, war es ihm, als ob selbst der Nebel, der zwischen den Tannen stehen geblieben war, gefroren sei. Die Rinden der Bäume und Sträucher waren einseitig weiß, die Äste hingen schwer auf den Weg und Merges geriet immer häufiger auf unebenen Boden. Wie könnte er bloß den Brief beginnen lassen? Die Anrede fiel leicht. „Hoch-edelgeborener, Hochgeehrter Herr Amtsverwalter“ wollte er schreiben, und dann, so dachte er, sei es klug, zunächst etwas Freundliches zu erwähnen, ein Kompliment etwa, um eine milde Stimmung herbeizuführen.

Der Schnee knirschte unter seinen Schritten. Mehrfach hob er den Blick gen Himmel und seufzte. Endlich entschied er, dass der erste Satz, den er bereits in seiner Kammer notiert hatte, brauchbar wäre: „Wenn ich nicht von Eurer Hochedelgeborenen Gewogenheit und Macht überzeugt wäre, so würde ich es kaum wagen, Ihnen den armen und verwirrten Zustand hiesiger Schule und Küsterei unterthänigst vorzutragen.“ Danach, so dachte er sich, könne er ein paar Beispiele folgen lassen, seinen Verdienst etwa, das armselige Pfarrergehalt von 21 Maltern Korn und 5 Maltern Hafer, zusätzlich vom Sterbefall eines Mannes 5 Brote, 9 oder 10 Pfund schwer, vom Sterbefall einer Frau 2 Brote, höchstens 6 Pfund schwer, 3 Brote an den Hochfesten und die auch nur zu Mürlenbach. Gab es eine Hochzeit, so dürfe er zwar mit essen gehen, hätte dafür aber auch zu singen und die anderen, übrigen Umstände zu tun. Von der Taufe eines Kindes bliebe ihm nur 1 Brot. Überhaupt das Brot. Nicht verschweigen wollte er, dass es meist nur grob gebacken und kaum genießbar war. Ja, die Sache mit dem Brot war schlecht. Er wollte ja gar nicht klagen, dass der Lohn für Taufen und Sterbeämter zu gering wäre, aber das Brot sei den Leuten zu lassen, waren sie doch allesamt so arm, dass sie es kaum zu geben vermochten. „So will ich Euer Hochwohlge-boren unterthänigst gebeten haben, den Lohn für Taufen und Sterbeämter in Geld oder Getreide zu bestimmen“, das musste hinein in sein Schreiben, denn dann würde die Not gemindert und er während der Schulzeit nicht mit unnützem Herumgehen in der Gemeinde genötigt. Er war froh, als der Kyll-wald lichter wurde, denn die Dämmerung stand bevor und er fürchtete, nicht mehr rechtzeitig vor Anbruch der Dunkelheit in Lissingen anzukommen.

Still floss die Kyll zu seiner Rechten, gesäumt von verschneiten Ufern mit Pappeln, eingeengt durch Hügelrücken und geschützt vor kalten Winden durch den steilen Osthang der Hardt. Hier, wo er im Sommer oft ruhte, konnte er heute nicht verweilen und so stakste er weiter, folgte dem Flusslauf noch ein gutes Stück, bis er die ersten Häuser von Lissingen gewahrte. Nur wenige zerstreute Lichter funkelten über die glitzernde Schneelandschaft. Hinter ihm lag der dichte Tannenwald und einzig seine Spur blieb zurück, vor ihm war alles weiß und unberührt. 34 Familien lebten hier, gesamt knappe 250 Seelen, 17 Jungen und 20 Mädchen besuchten die Schule und für alle galt es, Wort zu ergreifen. Im Dämmer lag die Kirche mit der Linde auf einem Hügel, vor dem Waldhintergrund, ein schlicht geputzter Bruchsteinbau, dessen schiefergedeckter schwarzer Turm sich nach dem Dorf zu neigen schien. Jemand hatte eine Kerze angezündet; in den Fenstern des Seitenschiffes flackerte ein schwaches Licht. Hinter der Kirche zeichnete sich die Ritterburg ab, mit einem Wehr- und einem Treppenturm, die, gleich von welcher Seite man das Dorf erblickte, das Bild beherrschte. Dumpf begann eine Glocke zu läuten. Merges beschleunigte seinen Schritt. Wovon er unbedingt auch schreiben musste, war seine missliche Lage als Lehrer. Noch drei Monate, dann endete seine Anstellung wieder. Nach der Fasten gingen die Lissinger Kinder mit auf die Felder und er hatte sein Amt einzustellen bis um Allerheiligen. Sebastian Weber, sein Vorgänger aus Kelberg, hatte ein ordentliches Geld für seinen Schuldienst empfangen, eine Summe, die man ihm bei seiner Bestellung versprochen, aber niemals ausbezahlt hatte. Dabei war ihm das Geld vom Vikariat zu Trier zuerkannt und dekretiert worden. Allein er hatte den Rückstand aus Furcht vor Absetzung ruhen lassen, aber jetzt war es genug des Schweigens. Nicht allein von den Leuten könne er leben. Denen sollte Last abgenommen werden. Auch das musste in den Brief. Das vielleicht zuallererst. Keine Menschenseele begegnete ihm auf seinem Weg, niemanden trieb es bei diesem Wetter hinaus. Er hastete entlang des Heiligenpfades bis zur Kläswies und noch als er über Kraheld ging, wo schwarze Saatkrähen in den verschneiten Kuhlen der Felder vergeblich nach Körnern suchten, lag alles öd und verlassen vor ihm. Von den verwitterten Feldkreuzen, die schief im Boden standen, ragten nur noch die Spitzen aus dem Schnee hervor. Den Hügel hinauf drängte es ihn, der Kirche zu, wo es bereits ein Geläuf vor dem offenen Portal gab. Es kam ihm in den Sinn, den Vorschlag zu unterbreiten, dass jedes Schulkind, dessen Eltern dazu im Stande seien, vielleicht ein gewisses Geld auf ein Viertel des Jahres oder zum Ende des Winters zu zahlen hätte. Vielleicht würde das helfen?

Ein paar Bauern zogen den Hut, als er eilig die Schuhe abklopfte und durch die holzgeschnitzte, rundgebo-

gene Pforte schritt, sich am Weihwasserbecken die Finger benetzte und das Kreuzzeichen machte. Er pressierte durch den langen Mittelgang, über die grauen Steinplatten entlang der offenen Beichtstühle, ein paar Stufen hinauf zum Altarraum. Während er auf der obersten Stufe niederkniete – sein Blick ruhte auf dem hölzernen Altar mit dem Prümer Lamm –, gedachte er eines Feldes hinter dem Schulhaus, einem kargen Stück Land, das vor einiger Zeit für 5 Rheinische Taler von der Gemeinde verpachtet, dieses Jahr aber nicht mit versteigert wurde, weil einige Bürger es dem Lehrer zusetzen wollten. Auch dieser guten Absicht wollte er im Brief Ausdruck geben. Sein Blick streifte die Holzfigur Mariens, die in einem langen, faltenreichen Gewand die rechte Hand mit einem Zepter streckte und auf dem linken Arm das Kind trug. Jedes Mal, wenn er die Figur ansah, dachte er daran, dass das Kind zu klein sei, viel zu klein im Verhältnis zur Gottesmutter und doch – gerade in dieser Darstellung lag Hoffnung. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns, nimm dich unser aller an.“ In der Sakristei empfing ihn der Küster und berichtete von den erbärmlichen Einnahmen aus Messstiftungen, die von Woche zu Woche kläglicher ausfielen, und dass, obwohl doch jedermann um die Wichtigkeit der Spenden für die Kirche wisse. „Selbst an Wachs und Dochten fehlt es, die Abgaben sind kaum mehr einzutreiben“, fisperte er, indem er Merges das Messgewand reichte, „die Gemeinde ist mit hohen Summen im Rückstand. Und es ist ihnen auch nicht zu verdenken. Immer elender wird das Leben hier. Kaum, dass wir unsere Opfer noch feiern können.“ „Ich weiß um dies alles. Es wird ein Brief geschrieben“, versicherte Merges, „glaubt mir, heute noch. Ich selbst werde schreiben. Wir müssen Vertrauen haben und beten. Es wird keine Fehlbitte sein. Und dann wollen wir sehn.“ Als Merges wenig später mit dem Messbuch in der Hand den Altarraum betrat und seine Gemeinde vor Augen hatte, die Männer auf der linken Seite, die Frauen rechts und alle abgehärmt und geschunden, fiel ihm plötzlich ein, dass man ihm dereinst – bei Antritt seines Dienstes – unter den Schutz der Herren Commissarien zu Trier gestellt hatte. Sogar versprochen waren ihm deren Beistand und Geleit.

Dass er daran nicht gedacht hatte? „Hochedelgeborene, Hochgeehrte Herren Commissarien“, so müsste es lauten, denn nicht der Vikar, auch nicht der Amtsverwalter, sondern die Commissarien würden entscheiden! Das wäre richtig, das wäre gut. Warum war ihm das nicht früher eingefallen? Erleichtert stimmte er den Eröffnungsvers aus dem 70. Psalm des Graduale Roma-num an: „Deus, in adjutorium meum intende…“ Jetzt würde das Schreiben leicht fallen, bald würde er gehört! „Ich bin Ihnen auf immer verbunden und verharre meiner Hochedelgeborenen Herren treu gehorsamster Diener Mathias Merges“, das sollte ganz am Schluss stehen. Er dachte an seine Bitte und spürte eine große, deutliche Hoffnung. „Danke“, murmelte er, während er zur hölzernen Gottesmutter hinüber sah, die den zu klein geratenen Jesus im Arm hielt, „danke.“ Nachsatz: der Pfarrherr Mathias Merges erreichte durch sein Schreiben erstmals im Sommer 1786 die gewünschte Ablösung in Geld oder Korn.

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Kleine Lebensphilosophie

Bist du eine Blume im Leben,
anfangs noch wehrlos und klein,
blühst du entweder unbändig,
oder bleibst zierlich und fein.

Einige Blumen blühn lange,
andīre ein einziges Mal.
Frag nicht, was dir ist beschieden.
Das Leben allein trifft die Wahl.

Christa Feltgen, Kerpen