In jener Zeit

Maria Schüßler, Birresborn

Ja, damals waren die Winter noch lang und sehr kalt. Meistens fing es im November schon an zu schneien, und der Schnee lag oft bis in den März hinein. Da alle Wege, außer der Hauptstraße, steil abwärts durchs Dorf führten, ergab das wunderbare Schlittenbahnen. Die Schlitten waren meistens Eigenbau. Niedrige Kufen mit breitem Bretterbelag, die von den Jungen im Liegen gefahren wurden. Sie rappelten ordentlich, so dass sich ein Fußgänger rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Band man die Schlitten zusammen, so ergab das zwar eine fröhliche, doch recht gefährliche Karawane, die in den Kurven leicht ins Schleudern geriet und zu Stürzen und Verletzungen führte. Die Noll herunter wurde der Gartenzaun an Angelsen Ecke jedes Jahr ein Trümmerhaufen, und die Fahrt endete an den darunter liegenden Häusern. Die Fahrt von der Büdesheimer Straße runter landeten die Schlitten gegenüber vom Pfarrhaus auf der Kellerabdeckung von „Hells Haus“, heute Haus Stahl, oder 20 Meter weiter auf der alten Schultreppe. Schlittenfahren und Schneeballschlacht waren das Winterver gnügen der Kinder. Der zweite Teil des Tages, die langen Winterabende, könnte man mit den Worten beginnen wie die Märchen beginnen: „Es war einmal“.

Zeitlich gesehen noch kein Jahrhundert. Aber Technik und Wissenschaft haben die Welt in den letzten 50 Jahren so verändert, dass der älteren Generation vieles unbegreiflich, manches sogar beängstigend erscheint. Nun also, vor dieser Zeit, bevor Radio und Fernsehen in unseren Wohnzimmern die Herrschaft antraten, war die Stube (der Name Wohnzimmer war auch noch nicht erfunden) der abendliche Treffpunkt von Nachbarn und Verwandten, wie es sich gerade ergab. Man saß um den Ofen, der einzigen Wärmequelle des ganzen Hauses. Jeder hatte seine Arbeit mitgebracht. Die Frauen strickten, stopften und flickten, die Männer flochten Körbe, schnitzten neue Rechenzähne oder banden Besen, und es tat der Gemütlichkeit keinen Abbruch, dass der Fußboden voller Späne und Weidenruten lag. Eines der kleinen Kinder hatte sich auf Großmutters Schoß behaglich eingerichtet. Wir Größeren saßen am Tisch mit einem selbst angefertigten Brettspiel, das mit Knöpfen gespielt wurde. Manchmal stand auf dem Tisch eine Schüssel mit getrockneten Apfelschnitten oder kleinen, braunen, gebackenen Birnen, ein Überbleibsel vom Sommer, die wunderbar schmeckten. Eine Apfel sine oder eine Banane hatte noch niemand gesehen. Was mir aber von diesen Abenden unvergesslich ist, sind die Geschichten, die von den alten Leuten erzählt wurden. Manches war wohl noch von einer früheren Generation überliefert, anderes hatte man selbst erlebt. Da erzählte man von einem Pastor, den man rief, als ein Feuer ausgebrochen war, das das ganze Dorf bedrohte, weil das Wasser zum Löschen gefroren war. Dieser Pastor besaß die Gabe, das Feuer zu bannen. Es fiel sogleich in sich zusammen und erlosch. Da die meisten Leute in keiner Krankenkasse waren, gab der Pastor auch bei Krankheiten manchen guten Rat. Ein Doktor kam nur im Notfall ins Dorf. Der kostete Geld, das man nicht hatte. Die Kinder wurden zu Hause geboren, und die alten Leute starben zu Hause. Doch man kannte auch Menschen, die heilende Hände hatten. Bei schlimmen Schmerzen, wie bei starken Verbrennungen, holte man sie zu den Kranken. Die Schmerzen ließen nach und wurden erträglich.

Man erzählte Geschichten von den vielen Kreuzen, die rund um Birresborn in Feld und Flur stehen. Oft war dort ein Mensch zu Tode gekommen, und es gingt niemand an einem Kreuz vorbei, ohne den Hut zu ziehen oder das Kreuzzeichen zu machen. Auch dass man einen gesehen hatte, der doch längst tot war, wurde höchst glaubhaft erzählt. Dann erzählte man Geschichten vom „Rödel-kauler Männchen“, das auf der Rödelkaul, der höchsten Erhebung des Birresborner Gebietes, hauste. Musste man bei Nacht von Rom nach Bir-resborn oder umgekehrt sein Gebiet durchqueren, so war das ein höchst gefährliches Unternehmen. Seltsame Dinge waren dort schon passiert. Auch das „Hundsbachtaler Jüngelchen“ war wieder gesehen worden. Es war in den tiefen Schluchten, durch die der Hundsbach fließt, zu Hause. Das Hundsbachtal steht seit langem unter Naturschutz. Es wachsen dort viele seltene Blumen und Pflanzen. Man kann es erwandern von seiner Mündung in die Kyll zwischen Birresborn und Lis-singen bis hinauf zu seiner Quelle.
Wenn wir Kinder dann schlafen gingen, fand sich in jedem Bett ein warmer Ziegelstein. Die Zimmerwände glitzerten vom Frost, man kroch unter die Decke, dass nur die Nasenspitze herausguckte und hoffte, dass bis zum Morgen die Nasenlöcher nicht zugefroren waren. Aus heutiger Sicht war diese Zeit eine arme, mühselige Zeit, ja man könnte sagen eine Not-Zeit. Und trotzdem möchte ich manchmal in meiner eigenen Fußspur zurück in diese vergangene Zeit gehen.