Wie ich der Homöopathie entfloh

Was so neu erscheint, wurde früher auch schon praktiziert

Gertrud Knobloch, Berg

Oft habe ich den Eindruck, es gibt auch heute noch viele Kinder, die sich ähnlich entwickeln, wie ich es tat. Ständig war ich krank, bis in das Schulalter hinein. Meinen heißersehnten ersten Schultag musste ich mit Masern daheim im Bett erleben, vergesse aber nie, wie mir ein kleines Schokoladen-Oster-nestchen und ein Fähnchen mitgebracht wurden, worauf ich innerlich beschloss, meinem Kranksein bald und für immer ein Ende zu machen. Ständig hatte ich unter Erkältungskrankheiten gelitten. Drei mal erwischte mich allein die Lungenentzündung noch unter dem Alter von fünf Jahren. Das hatte sicher mit den ungünstigen Verhältnissen daheim zu tun, wo man mich oft der Zugluft und Wind und Wetter aussetzte, auch im Winter immer im ungeheizten Zimmer schlafen ließ. Die Wohnungsverhältnisse waren so, dass lediglich in Küche und Wohnraum geheizt wurde. Wir Kinder pendelten immer - meist ohne zusätzliche Kleidung - zwischen Stall und Wohngebäude, und ich wurde Husten und Schnupfen niemals los, außer im Sommer. Eine meiner Tanten, die meine Großmutter besonders schätzte, hatte eine Vorliebe für die Homöopathie. Und so kam es, dass auch ich zu ihrer be vorzugten und hochgelobten Homöopathin hingeschleppt wurde. Das geschah schon ganz gegen meinen Willen, aber es kam für mich noch viel schlimmer. Es war gar nicht auszudenken, wie viele Krankheiten und Schwächen sie an mir fand. Schließlich hatte ich so viele Medikamente, Tees und Tropfen, dass sie gar nicht mehr in den Schrank passten. Mutter steckte sie der Einfachheit halber in einen Milchkessel, den sie nicht mehr brauchte und der damit fast voll wurde. Es war noch vor dem Schuleintritt, sonst wäre auch meine „Behand-lung“ gar nicht durchführbar gewesen. Der längste Zwischenraum zwischen zwei Medikamenteneinnahmen waren zwei Stunden. Mutter hatte vollauf zu tun, sie mir zu verabreichen. Kein Wunder, dass sie nach einiger Zeit damit etwas nachlässiger wurde, es war einfach zuviel. Mir grauste vor allem vor den Tees, so dass ich Heilteegenuss noch heute verabscheue! Sie schmeckten mir derart scheußlich, dass ich beschloss, sie nicht mehr zu trinken. Aber wie! Der wachen Aufmerksamkeit meiner Mutter wusste ich mich nur zu entziehen, indem ich behauptete, der Tee sei mir noch viel zu heiß. So entzog ich mich ihrer Aufmerksamkeit, da sie viel Arbeit hatte und nicht viertelstundenlang auf mich aufpassen konnte. War sie aber kurz verschwunden, wurde ich blitzschnell aktiv und kippte den gesamten Tee in den Ausguss, um dann scheinheilig zu behaupten, ich hätte ihn inzwischen doch schon ausgetrunken. Auch vor den Tropfen grauste mir, und das ständige Kontrolliertwerden ging mir so auf die Nerven, dass ich bei mir beschloss, ohne Tropfen und Tees so gesund wie möglich zu werden. Selbst meine sonst vorbildliche Mutter war der ständigen Kontrolle und Beaufsichtigung zum Verabreichen der Pillen, Tees und Tropfen auf Dauer schon aus Arbeitsgründen nicht gewachsen, da sie auch in Garten, Wiese und Feld mitarbeiten musste. Und so wirkte sich die „Potenz“ meines festen Willens immer öfter derart aus, dass die Medizin in den Spülstein wanderte, ich aber trotzdem mich mehr und mehr stabilisierte und keiner Homöopathie mehr bedurfte!