Vom Dieb mit amtlicher Erlaubnis und mit Gewissensbissen

Emil Lenzen, Köln

Man hatte damals im und auch nach dem Krieg oftmals den Eindruck, als stünde alles auf dem Kopf. Regeln, an die man sich früher hielt, schienen nicht mehr zu gelten. Meine Eltern standen nach der Rückkehr aus ihrer Evakuierung mit ihrem Haustürschlüssel in der Hand fassungslos vor den Trümmern ihres Hauses in Gerolstein. Ein halbes Jahr vor Kriegsende war ich noch eingezogen worden und durch raschen Wechsel von Kriegseinsätzen bedingt, brach jeder Kontakt zur Heimat ab. So erfuhr ich Anfang 1945 erst bei meiner Heimkehr von der Zerstörung unseres Hauses. Ich traf meine Eltern in der Heiligensteinstraße auf den Trümmern, mühselig dabei, noch etwas Brauchbares zu finden. Sie waren nicht die einzigen Obdachlosen in der Straße. Auch unser direkter Nachbar, Herr Hunz, beinamputiert wie mein Vater vom Ersten Weltkrieg, versuchte noch etwas Nützliches zu finden. Plötzlich kam aus dem halb eingefallenen Kellerloch ein Geräusch. Bald wurde ein halbvoller Sack mit Briketts herausgeschoben. Dann kletterte ein Mann heraus, den mein Vater, noch vor dem Zuschlagen, als einen der örtlichen Gendarmeriebeamten erkannte.
Ein Gendarm als Dieb! Auch noch am helllichten Tag! Einer, der Ausgebombte bestiehlt! Zur Rede gestellt, behauptete er, dazu berechtigt zu sein, brauchbare Sachen aus den in Trümmer liegenden Häusern zu „ber-gen!“ „Amtlich berechtigt!“ „Bergen!“ Wir trauten unseren Ohren nicht! Und dann trauten wir unseren Augen nicht! Er zog tatsächlich einen zerknitterten Berechtigungsschein aus seiner Jacke, ausgestellt von seiner ehemaligen Behörde, dass er zu solchen Aktionen berechtigt sei, um sich und seine Familie zu versorgen. Wir hatten das alles noch nicht verdaut, als wir wenig später beim Bienenhaus am Hähnchen ankamen, das etwa 100 m weit vom Haus weg die Angriffe anscheinend heil überdauert hatte. Mein Vater war leidenschaftlicher Imker, er hatte in Gerolstein den größten Bienenstand. Trotz seiner Behinderung hatte er während des Krieges auch den Stand von Burg Pitter mitversorgt, solange dieser eingezogen war. Unser erster Blick auf die etwa 30 Bienenvölker machte uns richtig froh, sie schienen alle überlebt zu haben. Aber dann sank die Stimmung ins Nichts, alle Gerätschaften waren weg! Am schlimmsten war der Verlust der rund 300 voll ausgebauten Waben. Ohne Waben kein Honig! Ja, man konnte schon verzweifeln in jenen Tagen! Denn bald musste gehandelt werden. Es war höchste Zeit, die Honigwaben in die Völker zu stellen! Da kam ein Messdiener zu uns in den Kasselburger Weg, wo wir notdürftig in den so genannten „Zwölf Aposteln“, untergekommen waren. Der Pastor hatte den Jungen mit der Botschaft geschickt, mein Vater solle ins Pfarrhaus kommen – mit einem Handwagen! Es seien ihm gehörende Sachen dort abgegeben worden! Am Pfarrhaus gab es eine freudige Überraschung! Der Pastor überreichte uns den überwiegenden Teil der geraubten Gerätschaften aus unserem Bienenhaus, darunter auch die wertvollen Waben! Er meinte lächelnd, es sei wohl jetzt keine Sünde mehr, wenn durch Rückgabe des Diebesgutes der Sünder tätige Reue gezeigt habe. Meinem Vater und mir war es vollkommen egal, was er sagte. Wir waren so glücklich, wenigstens der Honig war uns 1945 sicher. Wir hatten gelernt, wenn man am Boden liegt, wird einem selten eine helfende Hand gereicht, um wieder aufzustehen, es sei denn eine durch Gottes Fügung.