Meine Erinnerungen an die Kolverather Traud

Tamara Retterath, Lirstal

Mein Vater schilderte mir seine Erinnerungen an die vom Schicksal stark gebeutelte (zum damaligen Zeitpunkt schon über 60jährige) Gertrud Feiler - Traud genannt: Die Kolverather Traud war eine arme Frau ohne festen Wohnsitz, die kreuz und quer durch die Eifeldörfer zog. Schwere Schicksalsschläge schon in der vorherigen Generation haben sie auf die Straße gebracht. Ihre Eltern hatten einst eine gute Existenz mit einem Bauernhof in Kolverath. Doch als der Vater durch einen Unglücksfall früh starb, stand die junge Mutter mit ihrem Kleinkind, der Traud, vollkommen alleine da. Mit der Führung der Landwirtschaft und dem damit verbundenen Handel war die junge Witwe überfordert. Nun waren die meisten Frauen im 19. Jahrhundert in geschäft-

lichen Angelegenheiten noch nicht so geschult und versiert wie heute und sie wurde so häufig übervorteilt, dass sie Schulden machen musste, die schließlich zum Notverkauf des gesamten Hofes mit allen Länderein führte. Völlig mittellos mussten Mutter und Kind Kolverath verlassen und ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich als Landarbeiterinnen zu verdingen. Hier wurden sie allerdings nur für die Landwirtschaftssaison gebraucht. Sie halfen im Frühjahr bei der Einsaat und bei Anpflanzungen, arbeiteten im Sommer zunächst bei der Heu- und dann bei der Getreideernte, im Herbst schließlich bei der Kartoffel- und Rübenernte. Danach standen sie wieder auf der Straße und mussten sich im Winter irgendwie durchschlagen. Sie wurden von den jeweiligen Bauern insofern ausgenutzt als sie für ihre harte Arbeit nur die Kost bekamen. Und wenn sie ihren Dienst getan hatten, mussten sie wieder brotlos weiterziehen. Als ihre Mutter starb, blieb der Traud nichts anderes übrig, als fortan ihr Schicksal alleine auf diese Weise zu bewältigen.

Um wenigstens ein kleines bisschen Bargeld zu verdienen, pflückte die Traud – neben ihrer Arbeit bei den

Landwirten oder zwischen den Einsätzen bei verschiedenen Bauern – Kamillenblumen und verkaufte diese als gebundene Sträußchen von Haus zu Haus. Durch ihre rastlose ständige Wanderschaft durch die Eifel kannte sie die besten Stellen in der Natur, wo die Echte Kamille gedieh und die Haushalte waren froh, etwas Heiltee im Krankheitsfall im Haus zu haben. Zur Blütezeit der Kamille im Juli und August waren nämlich die meisten Leute mit der Ernte landwirtschaftlicher Erzeugnisse beschäftigt und hatten wenig Zeit, um sich selbst dem Kräuterpflücken zu widmen.

Die Kolverather Traud lebte vom 27.11.1884 bis zum 04.12.1964.

Ich lernte die Traud in den 1940ern kennen, als ich noch ein Kind war. Mir selbst ist im Zusammenhang mit dem Teepflücken bekannt, dass sie bei uns nur in den Monaten ihre Teebündel anbot, in denen die Kamille auch in voller Blüte stand. Andere Zeitzeugen berichteten aber, dass die Traud auch später getrocknete Sträußchen verkaufte. Diese Frau war deshalb in weitem Umkreis liebevoll als „Kamillentraud“ bekannt. Mit eigentlichem bürgerlichem Namen hieß sie Gertrud Feiler. Weil ihre Eltern ursprüng-

Erinnern kann ich mich noch gut daran, wie die alte Frau dankbar ihre Suppe beim Abendbrot schlürfte. Ich weiß, dass meine Eltern, die zwar nicht über ein Gästezimmer verfügten, ihr aber oft angeboten hatten, in der warmen Wohnküche schlafen zu können, doch das lehnte die Traud immer ab. Sie wollte im weichen Stroh im Stall übernachten, wo es durch das Vieh ebenfalls etwas warm war. Da sie dafür die Erlaubnis hatte und sich durch ihre häufigen Aufenthalte bei uns schon auskannte, erhob sich die Traud ganz selbstverständlich sobald es Schlafenszeit war, nahm ihren Rucksack, verabschiedete sich für die Nacht und ging in unseren Stall, wo sie sich auf dem Stroh ihre Schlafstätte

bereitete. Morgens in aller Herrgottsfrühe wurden bei uns immer erst die Tiere versorgt und dann mit der ganzen Familie gefrühstückt. Wenn meine Eltern die Kühe melkten, bekam die Traud gleich die erste Milch zu trinken, und sie war schon froh, etwas Warmes im Leib zu haben. Anschließend frühstückten wir alle in der Küche. Dann kam selbstgebackenes Brot auf den Tisch, Marmelade, Gelee, Rübenkraut, Apfelmus, „Klatschkäse“ (Quark) und natürlich Butter – alles aus eigener Herstellung. Dazu wurde Milch oder Kaffee getrunken. Zusätzlich bereitete meine Mutter „Eierschmier“ in der Pfanne auf dem Kohlenherd zu. Ein einfaches, aber leckeres Gericht, das warm auf die Brotscheibe „geschmiert“ (gestrichen) wurde. Wie alle Familienmitglieder machte sich auch die Kolverather Traud ordentlich satt, so wie sich das morgens bei einer Bauernfamilie gehört.

Gut gestärkt zog die Traud dann weiter ihrem neuen Ziel entgegen.

Ein großer Teil der Eifelbe-völkerung war noch bis in die Mitte der 1940er Jahre hinein gezwungen, sich bei reichen

Bauernbetrieben zu verdingen. Der Anblick von Wanderarbeitern war in dieser Zeit noch gang und gäbe und die Traud fiel hier noch nicht so stark auf. Doch später führte der zunehmende Einsatz von Maschinen in der Landwirtschaft und Wandlungen in der Volkswirtschaft mit ihrer stärkeren Industrialisierung auch zu Veränderungen der Arbeitsmöglichkeiten für die Bewohner ländlicher Regionen.

In den späten 1940ern und in den 50ern gab es daher schon keine oder kaum mehr Wanderarbeiter, die von Gutsbetrieb zu Gutsbetrieb eine neue Stellung suchten. Ein Großteil der Bevölkerung profitierte jetzt vom wachsenden Wohlstand in der sogenannten Wirtschaftswunderzeit. Nicht so die Traud: Die Kamillen-traud behielt (möglicherweise aufgrund mangelnder Chancen) weiter ihren alten, gewohnten Lebensstil bei

und wurde so immer mehr zu einem Unikum und Eifler Original. Wie ein Relikt aus einer vergangenen, armen Zeit. Musste die Traud bei ihren Wanderschaften unterwegs einmal Wasser lassen, so stellte sie sich einfach breitbeinig über einen Entwässerungsgraben entlang der Straße, hielt ihren langen Rock weit auseinander und ließ es einfach laufen. Den Strahl konnte man unten herauslaufen sehen; ein Zeichen dafür, dass sie keine Unterhose trug. Wenn die arme Frau von Dorf zu Dorf zog, war sie besonders dem Spott der Kinder ausgesetzt, die sich sogleich um sie gruppierten und sich über sie lustig machten. Öfter waren sogar Kinder dabei, die sie regelrecht verfolgten und mit kleinen Kieselsteinen bewarfen. Überall in den Orten gab es das gleiche „Spiel“ und die alte Frau muss heilfroh gewesen sein, wenn die Jugend zumindest in den werktäglichen Morgenstunden in der Schule war und sie in Ruhe gelassen wurde. Auch Kinder können grausam sein. So kann ich mich daran erinnern, dass wir Schulkinder die Traud mehrmals auf unserem Weg von der Schule im Nachbarort nachhause zu unserem Heimatdorf überholten, da wir schneller gehen konnten als die alte Frau. Auch in unsrer Gruppe waren einige dabei, die sie hänselten und abwertend „Bäh!“ riefen, wenn wir an ihr vorbeigingen. Dann flog auch der ein oder andere Kieselstein. Für mich war es zwar selbstverständlich, dass ich dabei nicht mitmachte –

die Traud saß schließlich bei uns mit am Tisch und bei mir zuhause hätte es auch was gesetzt, wenn meine Eltern davon erfahren hätten - , doch hatte ich auch wiederum nicht den Mut und die Fähigkeit, die Übeltäter von ihren Gemeinheiten abzubringen. Die deutliche Reaktion der Traud auf den Spott und die Steine hat die „Pänz“ leider noch mehr animiert. Die arme Frau zeterte und wetterte übertrieben lautstark gegen die Täter, drohte mit der erhobenen Faust und schimpfte wieder wie ein Rohrspatz. Dies war wahrscheinlich ein Fehler; vielleicht wären die Situationen anders gewesen, wenn sie sich nicht an den Gemeinheiten gestört hätte. Aber – wer kann das schon? Solche Sticheleien und Bos-haftigkeiten in sich hineinfressen?

Einige Jungen eines anderen Dorfes haben der armen Traud dort oft einen Streich gespielt, indem sie ihr den Bollerwagen mit ihren getrockneten Kamillen und Habseligkeiten versteckten, während die Traud in einem warmherzigen Haus ihr Mittagessen einnahm. Als sie aus der Haustüre heraustrat, erwartete sie dann die böse Überraschung. Sie musste lange nach ihrem einzigen Besitz suchen, ehe sie das Wägelchen hinter einer Scheune wiederfand. Ein anderes Mal gingen schlimme Buben mit ihren Gemeinheiten sogar noch weiter: Wenn die Traud im Haus etwas zu essen bekam und den Bollerwagen draußen

im Hof stehen ließ, zogen die Burschen den Bolzen aus der Radachse des kleinen Wagens. Das hatte zur Folge, nachdem die arme Frau nun mit ihrem Handwagen weiterzog, dass sich unterwegs irgendwo das Rad löste. Passierte das zwischen zwei Orten in weiter Flur, so hatte sie große Schwierigkeiten mit dem defekten Wägelchen, bei dem sie nun ständig das Rad verlor, und sie kam schwerlich weiter voran. Über eine Begebenheit in der Lirstaler Volksschule wurde mir Folgendes erzählt: Die Kamillentraud ist wohl in ihrem Leben so vielen Bösartigkeiten ausgesetzt gewesen, dass sie sich zumindest einmal in ihrer Hilflosigkeit sich wehren zu wollen, wider besseren Wissens gegen einen ganz und gar Unschuldigen die Hand erhob. Eines Morgens kam die Kolverather Traud entlang der Hauptstraße an der Dorfschule in Lirstal vorbei, wo gerade der Unterricht stattfand. Die Traud verschnaufte ein wenig, als ihre Aufmerksamkeit durch Bewegungen auf das Schulfenster gerichtet wurde. Hier bemerkte sie eine männliche Person, die ihr durch die Glasscheibe Grimassen schnitt und ulkige, veräppelnde Gebärden veranstaltete. Die Traud, dafür bekannt, dass sie sich nichts gefallen lassen wollte, ging schnellen Schritts auf den Schuleingang zu. Wutentbrannt riss sie die Tür auf, knöpfte sich sogleich den verdutzten Lehrer vor und schlug ihm einen Strauß Kamille, den sie zufällig in

der Hand hielt, um die Ohren. Sie glaubte, mit dem Lehrer, den Täter vor sich zu haben. Doch das war natürlich nicht so. Während der Lehrer etwas an die Tafel geschrieben hatte und mit seinem Rücken zur Klasse stand, hatte ein Schüler die Gunst der Stunde genutzt und die Faxen am Fenster nach draußen zur Traud veranstaltet. Jetzt stand sie fluchend vor dem Lehrer und der wahre Übeltäter aus der letzten Reihe wurde immer kleiner und versteckte sich hinter der Bank, um nicht erkannt zu werden. Der Volksschullehrer blieb ruhig, erklärte seine Unschuld und beruhigte die aufgebrachte Frau. Sicher hatte er Ver-

ständnis für die alte Traud, die vielleicht zu diesem Zeitpunkt schon ein wenig alterswirr war. Eine ältere Dame sagte mir kürzlich, als wir auf das Thema zu sprechen kamen, sie könne nicht nachvollziehen, wie geringschätzig die Kolverather Traud von vielen Einwohnern der Eifel damals behandelt wurde. Die Traud hatte zwar in verschiedenen Eifeldörfern ihre regelmäßige Anlaufstelle, ein Haus, bei dessen Bewohnern sie des Nachts unterkommen konnte oder wenigstens eine Mahlzeit oder ein Butterbrot bekam, doch musste sie von manch anderen, wenig sozial eingestellten, gemeinen Menschen viel einstecken

und Demütigungen ertragen. Dies erstaunt um so mehr, da sie ursprünglich aus einer früher einmal angesehenen bürgerlichen Familie stammte und das Dorf Kolverath in der näheren Umgebung jeder kannte. Sie war doch eine von uns! Und ihr Schicksal hätte damals jeden treffen können! Wenn es schon keine entfernteren Verwandten oder näheren Bekannten gab, die der Traud geholfen haben, so hätten doch die Eifelbe-wohner im allgemeinen ihr zumindest mehr Respekt entgegenbringen müssen. Die Kolverather Traud hatte sicher kein leichtes Los zu tragen. Sie starb krank in einer Nervenheilanstalt.