Kornel – Kuhhirte in Hünerbach

Kindheitserinnerungen an Kühe und „Kühert“

Stephan E. Braun, Sinzig-Löhndorf

Wer als Kind in den 1960-er und 70-erJahren in einem Eifeldorf aufwuchs, wie ich in Hünerbach (heute Ortsteil von Kelberg), hat das Ende der bäuerlich geprägten Gesellschaft miterlebt. Aus Bauerndörfern wurden „Wohn-dörfer“ (manchmal auch nur noch „Schlafdörfer“). Die Dörfer der Hocheifel haben in den letzten 40 Jahren einen stärkeren Wandel durchgemacht als in etlichen Jahrhunderten vorher. Hünerbach war zu jener Zeit ein Dorf, welches von der Landwirtschaft geprägt war. Fast jede Familie betrieb zumindest eine Nebenerwerbslandwirtschaft mit Ackerbau, Milchwirtschaft und Viehzucht.

Das häufigste Tier im Dorf war das Rind. In jedem Betrieb gab es Kühe und Kälber, manchmal auch Mastbullen. Der einzige Zuchtbulle des Dorfes war der „Gemein-destier“ im Eigentum der Kommune. Die Bullen blieben das ganze Jahr über im Stall, ebenso die jungen Kälber, die noch mit flüssiger Nahrung gefüttert wurden. Die Kühe und jüngeren weiblichen Tiere wurden von ungefähr Mai bis Oktober auf die Weiden zum Fressen getrieben, wobei die Milchkühe morgens und abends zum Melken in den Stall geholt wurden.

In Hünerbach gab es seit 1936 eine Weidegenossenschaft (s. Heimatjahrbuch 1996), die einen Kuhhirten beschäftigte, der die Kühe und Rinder im Sommer auf den gemeindlichen Weiden hütete. Jeder Genosse durfte bis sechs Tiere in der Herde mit treiben. Die restlichen Tiere wurden von den jeweiligen Familien selbst auf eigene Wiesen zum Grasen geführt.

Die Weidezeit begann ungefähr Anfang Mai, wenn das Gras hoch genug war. Der erste Weidetag war jährlich ein wichtiges Ereignis für das gesamte Dorf. Nach Mittag wurden aus jedem Stall die Tiere heraus gelassen, fanden sich zur Herde zusammen und wurden auf eine Weide nahe des Dorfes getrieben. Die Rinder mussten sich nach dem langen Winter im Stall an der Kette zunächst wieder an die „Freiheit“ gewöhnen. Manche Kühe sprangen wie verrückt über die Wiesen oder gingen in Rangkämpfen mit den Hörnern aufeinander los. Da der Kuhhirte alleine überfordert gewesen wäre, gingen an diesem Tag aus jeder Familie mindestens ein Erwachsener, sowie alle Kinder und Jugendliche, mit auf die Weide. Während die „Alten“ die Herde beobachteten, hatten wir „Junge“ Zeit zum Spielen. Für uns Kinder war das ein besonderer Tag, weil die ge-

samte Dorfjugend versammelt war. Die Großen zeigten den Kleinen, wie man Pfeifen aus Ebereschen- oder Weidenästen schnitzt oder wie man Stöcke aus Haselnussästen fertigt. Diese Stöcke wurden spätestens jetzt zum Treiben der Kühe benötigt und Jeder war stolz, einen möglichst reich verzierten Stab mit nach Hause zu nehmen. Zum Abend zog die Herde wieder ins Dorf zurück. Die älteren Kühe fanden ihren Stall alleine, jüngere Tiere mussten manchmal von ihren Besitzern aus der Herde heraus geholt und nach Hause geleitet werden. Nach ein paar Tagen fanden alle Kühe ihren heimischen Stall und dort ihren richtige Platz selbstständig. (Daher bekamen wir Kinder bei Tisch zu hören, wenn wir uns auf den falschen Platz setzten, wir seien dümmer als jede Kuh, denn „jed Koh föndt ihr End = jede Kuh findet ihren Platz!“). Der Kuhhirte („Kühert“) war während meiner Kindheit ein Junggeselle mit dem in Hünerbach ungewöhnlichen Namen Cornelius oder für alle im Dorf „dä Kornel“.

Während der Weidezeit musste er die Herde morgens auf die Weide treiben, tagsüber hüten und abends wieder in Dorf zurück bringen. Urlaub oder ein freies Wochenende

gab es im Sommer für ihn nicht.

Seine Ausrüstung bestand neben seinem Hund aus einer Peitsche und einem Stab zum Treiben der Kühe, sowie einer roten Fahne, um Autos zu warnen, wenn die Herde Verkehrsstraßen mit benutzten. Außerdem besaß er noch ein Signalhorn. Mit dem blies er morgens, wenn die Herde los zog und abends, wenn sie zurück kam. Nur der Kuhhirte hatte so ein Horn im Dorf und nur er durfte es blasen, in unseren Kinderaugen war es ein Zeichen seiner Macht. Obwohl der „Kühert“ auf der untersten gesellschaftlichen Stufe stand, kein Haus, keinen Hof, keinen Besitz und nur geringstes Einkommen hatte, war er nach unseren kindlichen Wertmaßstäben eine der interessantesten Personen im Dorf , denn er war anders als alle anderen. Gemäß der Satzung der Weidegenossenschaft wurde er abwechselnd von den Bauern beköstigt. Für jedes Tier einer Familie in der Herde bekam er im ständigen Wechsel einen Tag Frühstück, Mittagessen und Abendessen, d.h. wer drei Tiere mit trieb, musste ihn drei Tage hintereinander verpflegen. Da maximal sechs Tiere je Betrieb mit der Herde gehen durften, kam er so jede Woche in mindestens zwei Familien zum Essen. Natürlich aß er am Familientisch mit, und wusste so, was in den Familien besprochen (oder auch nicht besprochen) wurde. In Zeiten ohne Privatfernsehen waren seine Erzählungen eine willkommene

Abwechslung, nicht nur für Kinder.

Aber was ihn noch bewundernswerter für uns „Pänz“ machte, war die Tatsache, dass er sich im Gegensatz zu uns nicht dauernd waschen musste. Wandelten sich die Gegebenheiten bezüglich Körperhygiene in den 1960-er Jahren sehr stark durch den Einbau von Badezimmern in den alten Bauernhäusern, so blieb Kornel von den Torturen des wöchentlichen Vollbades mit Kopfwäsche (was ich als Kind hasste) verschont. Man sah, dass er sich wahrscheinlich nicht jeden Tag allzu ordentlich wusch, kämmte, rasierte, und auch seine Kleider und Leibwäsche nicht allzu oft wechselte. Seine Pfeife, die er wohl nur in der Kirche, beim Essen und Schlafen aus dem Mund nahm, verströmte mit ihrem Aroma nach „Mor-bacher Strangtabak“ auch nicht unbedingt den „Duft der großen weiten Welt“. Die Familie, bei der er in Kost war, musste an diesen Tagen auch eine Person abstellen, die die Herde begleitete und beim Überqueren der Hauptstraße mit einer roten Fahne den Autoverkehr warnen musste. Wir Kinder übernahmen diese verantwortungsvolle Tätigkeit gerne. Durch den zunehmenden Straßenverkehr wurde es zunehmend gefährlicher, die Herde über die Straße zu treiben. Besonders an Wochenenden, an denen auf dem Nürburgring Veranstaltungen waren, war erhöhte Vorsicht geboten, denn manche der Rennbesucher rasten durch das Dorf

und hatten Schwierigkeiten zu bremsen, wenn plötzlich eine Viehherde vor ihnen auftauchte.

Ein großer Feiertag für Kor-nel war Fastnacht, er war ein ausgesprochener „Bokert“(= Narr). An den närrischen Tagen verkleidete und maskierte er sich und ging „bokere“, d.h. er ging zu Fuß durch die Dörfer, kehrte in den Häusern ein , sang und tanzte und erhielt als Belohnung Geld oder Eier. Kornel war einer der letzten Erwachsenen, die ich kannte, der als „Bokert“ durch die Gegend zog. Es kam ihm zugute, dass Fastnacht in die Zeit außerhalb des Weidebetriebs fiel, so hatte er keine weiteren Verpflichtungen nachzukommen. Obwohl er ein einfacher, schlecht bezahlter Mann war, trug er eine große Verantwortung für das ihm anvertraute Vieh. Die Rinder stellten für die jeweiligen Familien ein erhebliches Vermögen dar, und er hatte dafür Sorge zu tragen, dass alle Tiere abends wieder gesund zurück in den Stall kamen.

Im Jahre 1970 musste in Hü-nerbach die genossenschaftliche Viehherde aufgelöst werden, da Kornel infolge von Alter und Krankheit seiner Tätigkeit als Kuhhirte nicht mehr nachkommen konnte. Er war einer der ersten mir bekannten Hünerbacher, der in ein Altersheim kam. Für Hünerbach bedeutete es, um ein Original ärmer geworden zu sein. Mit ihm war ein Teil bäuerlicher Dorfgeschichte endgültig vorbei.