„Als ich mich fürchtete“

Florian Schulten, Gerolstein-Lissingen

1949 - in meinen Kinderjahren in Berndorf, hatte ich viel mit Leibschmerzen zu tun. Gerne hätte ich, wie meine Freunde, meine Hose mit einem Gürtel hochgehalten, aber wegen den Bauchschmerzen musste ich Hosenträger benutzen. Unser Hausarzt diagnostizierte stets Würmer, verschrieb ein Tütchen Wurmpulver, und das war es dann. Manchmal hatte ich auch diese Parasiten, aber meistens nicht. Nun waren die Schmerzen mal wieder so heftig, dass meine Mutter mich aus der Schule nahm und zum Arzt ging, der in Urlaub war. Er hatte aber einen jungen Arzt als Praxisvertretung. Nach Abtasten und eingehender Untersuchung empfahl er, dass schnellstens mein Blinddarm entfernt werden müsse.

Blinddarm, ein Darm ohne Auge, blind? Die Anatomie meines jungen Körpers war mir vollkommen fremd, aber es wird sich finden. Der damalige Chefarzt und Chirurg, Dr. Aymanns, im Krankenhaus Adenau hatte einen guten Ruf. Zudem gab es eine zweimalige tägliche Busverbindung nach dort. So kam ich nach Adenau ins Krankenhaus. Am folgenden Tag schon lag ich auf dem Operationstisch. An Armen und Beinen wurde ich festgeschnallt. Wozu denn, hatte man etwa Angst, dass ich von Adenau nach Berndorf weg-

laufen würde? Schon gab es ein Chloroformkäppchen auf die Nase und ich sollte zählen. 1,2,3... Bei 33 sagte man mir: „Jetzt rückwärts!“ Bei 15 oder 16 wurde ich müde. Als ich wach wurde, ging es mir sehr schlecht. Schmerzen an der Wunde und lang anhaltendes Erbrechen. Meine Mutter saß am Bett und hielt mir die Lippen feucht, da ich ständig Durst hatte, aber nicht trinken durfte. Jetzt hatte ich die Blumenvase ins Auge gefasst für den Fall, dass man mich allein lassen sollte. Aber, aber gegen Abend trug eine Schwester die Vase aus dem Zimmer. In der Nacht habe ich wie ein Schlafwandler das Zimmer verlassen, um auf der Toilette im Flur meinen Durst zu löschen. Meine Zimmerkollegen hatten aber fix die Nachtschwester herbeigeschellt und schon war auch diese Möglichkeit vertan. Nach etwa acht Tagen sollte ich wieder nach Hause. Diesen Tag sehnte ich herbei, da ich auch Heimweh hatte. Meine Wunde schmerzte, und der Bauch schwoll an. Die Ärzte sagten meiner Mutter, dass es bei mir eine schwierige Operation war, da der Blinddarm an der falschen Stelle lag. Er war mit dem Bauch- und Zwerchfell zusammen gewachsen und musste abgetrennt werden. Daher bildeten sich in meinem Leib Blut und Wasser und Eiter an der Wunde. „Da müssen wir punktie-

ren!“, und schon lag ich wieder auf dem Operationstisch. Die Wunde wurde schlimm und musste mehrmals täglich mit Höllenstein verätzt werden, und jedes Mal gab es eine dicke Packung Mull und Zellstoff obendrauf. Irgendwann hörte ich ein Gemurmel um mich herum. Als ich die Augen öffnete, versuchte der alte Krankenhausgeistliche, mir die Kommunion zu geben. Das war ein ehemaliger Missionspriester mit langem weißem Bart. Eine Nonne stotterte das „Confite-or“, aber es waren viele Fehler darin. Als Messdiener hatten wir Jungen das „Staffelgebet“, das „Confiteor“ und das „Sus-cipiat“ in lateinischer Sprache auswendig gelernt und mussten vor dem Pastor sogar eine Prüfung ablegen, ehe wir als Messdiener zugelassen wurden. Und hier versuchte sich eine Nonne am Confiteor. Ich war entsetzt. Ich dachte, ein Messdiener dürfte nur männlich sein, aber das hier war „Weiberkram“. Ohne dass ich es gemerkt hatte, wurde mir von dem Priester auch die Letzte Ölung gespendet. Tags darauf, als ich mich etwas erholt hatte, kam meine Schwester Ingrid und mein Freund Herbert mich besuchen. Als Ingrid nach Hause kam, fragte meine Mutter: „Was macht der Flori?“ „Och, dem geht es gut, der hat gestern Abend die Letzte Ölung empfangen.“

Meine Mutter war hart im Nehmen. Sie hatte einen Mann, der an einer unheilbaren Krankheit (MS) litt, und fünf Kinder zur Welt gebracht. Aber, das mit der Letzten Ölung hatte ihr doch sehr zugesetzt. Schnell mobilisierte sie ihren Vetter Georg Hermes, der ein Motorrad sein Eigen nannte. Mutter auf dem Sozius, so brausten die Beiden über schlechte Nachkriegsstraßen nach Adenau. Hier gab es gleich ein gehöriges Donnerwetter mit der Stationsschwester. Es sei eine Unverschämtheit, das man es nicht für nötig befunden hätte, die Eltern zu informieren, wie schlecht es mir gegangen sei, sagte meine Mutter. Außerdem sähe mein Bett aus wie das einer Wöchnerin. Eine Wöchnerin, was sollte

denn das wieder sein? Egal, war auch nicht so wichtig für mich. Jetzt bezog meine Mutter mit der mitgebrachten Wäsche mein Bett. „So mein Jung, nun schlaf mal schon und werde bald wieder ge-sund.“ Der Kommentar der Oberschwester: „Der Flori wäre doch so ein schönes Engelchen geworden.“ Nach etwa drei Wochen durfte ich das Krankenhaus verlassen, und wir fuhren mit dem Taxi nach Berndorf zurück. Zu Hause wurde ich wieder ins Bett gepackt, und jeden Tag kam der Arzt aus Hillesheim und behandelte meine böse Wunde mit Höllenstein. Das brannte und juckte und langsam heilte die Wunde. Nach insgesamt zwei Monaten Operation und Genesung war ich wieder

auf den Beinen. Im Schulunterricht wurde eines Tages das Aufsatzthema gegeben: „Als ich mich fürchtete.“ Ich beschrieb meine Blinddarmoperation. Das hat dem Lehrer gut gefallen. Er hat meinen Aufsatz der Klasse vorgelesen und ihn mit „Sehr gut“ benotet. Auch der Pastor muss meinen Aufsatz gelesen haben, denn im Katechismusunterricht wurde bald das Sakrament der Letzten Ölung durchgenommen. Ich war sehr beeindruckt und begeistert von dem fünften Sakrament. Schließlich hatte ich sehr gute Erfahrungen damit gemacht. Wie alles im Leben hat der Fortschritt auch bei den Sakramenten nicht Halt gemacht. Heute nennt man es nicht mehr die Letzte Ölung, sondern die Krankensalbung.