Der Weckmann

Eine kleine (zumeist wahre) Begebenheit aus meiner Jugend

Helmut Schäfer, Strohn

„So etwas wie dich habe ich noch nie erlebt,“ schrie die Lehrerin den kleinen, verängstigten Jungen an, der alleine in der ersten Bank vor ihr saß und sein Diktatheft umklammert hielt. Seine Hände zitterten. Er hatte Angst, sehr große Angst. Nicht nur vor der Lehrerin, nein, vor allem vor seinen Eltern. Die waren in der letzten Zeit nicht wirklich erbaut ob seiner schulischen Leistungen. Mama und vor allem der Papa hatten sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Er konnte das doch. So Mama. So auch der Papa. Wenn er denn nur wollte. Wenn er denn nur etwas mehr Geschick an die Sache legte. Sich mehr Mühe gäbe. „Wegen Dir muss ich heute leider Überstunden machen, die Du nicht wert bist!“ Sie, die eigentlich seine Freundin war, drehte sich abrupt um ihre eigene Achse und starrte zum Fenster hinaus. Es begann zu schneien. Gerade jetzt, zu diesem Zeitpunkt, sandte Frau Holle ihre ersten Botschafter zur Erde. „Du hast jetzt reichlich Zeit, Deine Fehler zu korrigieren,“ flüsterte ihm die Frau am Fenster in frostigem Ton zu. „Mir fehlt die Zeit, darauf zu warten. Deshalb lasse ich Dich jetzt allein. Wenn Du fertig bist, dann lege das Dik-

tatheft auf mein Pult!“ Sie atmete tief durch. „Ich hole es mir nachher hier ab!“ Dann nahm sie ihren Mantel vom Haken der winzigen Garderobe links des Eingangs und knallte mit Wucht die Tür zu.

Fürchterlich erschrocken und schrecklich allein saß der kleine Junge in dem Raum. Nach einigen Minuten des Nachdenkens fragte er sich: „Weshalb war seine Lehrerin denn heute so böse mit ihm? Weshalb hatte sie ihm die

heutige Nachhilfestunde mit bösen Worten verpasst, obwohl er doch der Klassenbeste war. Und das ausgerechnet in seinem Lieblingsfach, in Deutsch.“

Er fragte sich das immer wieder. Und wusste die Antwort doch sehr genau. Seinen letzten Aufsatz hatte Frau Klara, seine geliebte Lehrerin, mit einer glatten Eins benotet. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, die Arbeit mit mehr oder weniger vielen Sternen zu erhöhen; sie hätte es vollbracht. Den Neidern Wasser auf die Mühlen. Doch hatte sie sich das erspart. Um ihn zu schonen, ihren heimlichen Liebling. Ihren Besten in Sachen Deutsch. Ihren kreativsten Schüler. Mit dem sie glänzen wollte bei ihrer zweiten Prüfung zum Staatsexamen. Um im Nachhinein als beamtete Lehrerin die Zukunft planen zu können.

Und er hatte es dann verbockt. Hatte zum falschen Zeitpunkt geschwächelt. Hatte Antworten gegeben, auf die es keine Fragen gab. Vor der Prüfungskommission. War der Oberschlaue. Und dabei doch der Dümmste. Er, ihr Lieblingsschüler, versagte. Nahm sich selbst wichtiger als nötig.

Das Diktat drei Wochen später war dann „unter aller Kritik“ ausgefallen. Er hatte sich nicht konzentrieren können. Er trug schließlich Trauer. Sein Freund war gestorben. Sein Kaninchen, sein kuscheliger Freund. Und seine Freundin Lehrerin Klara ihm dann auch noch die Freund-

schaft aufgekündigt. Denn ihr Staatsexamen lag vorerst auf Eis. Allein wegen ihm. Grund genug, sich nicht auf Weihnachten freuen zu dürfen. Als Dank hatte sie ihm dann etwas geschenkt, was ihm bis dato noch nie passiert war – Nachsitzen! Alleine in der Schule bleiben zu müssen, um das Diktat nochmals intensiv nachzuvollziehen. Sie hatte zuvor Papa und Mama darüber informiert, welch verkommenes Subjekt ihr ach so schlauer Sohn doch sei. Dabei hatte er sich doch nur entschuldigen wollen. In dem Diktat. Hatte am Schluss als Postskriptum etwas für ihn Wichtiges hingekritzelt.

Die Schneeflocken fielen dichter. Es wurde dunkel im Klassenzimmer. Frau Holle war sehr freigiebig. Dicke Flocken trieben an der Fensterfront des Kassenzimmers vorbei, turtelten sacht nach unten. Er wartete. Klara kam nicht mehr. Er wartete sehr lange. Hatte das Abschreiben längst erledigt. Sie kam nicht mehr, um zu kontrollieren. Ließ ihn allein. Da starb mit der zunehmenden Dunkelheit seine Freundschaft zu ihr. Da wuchs seine Angst. Und Klara war nicht mehr da. Um ihm die Angst vor dem Alleinsein zu nehmen. Nach gut zwei Stunden, die er alleine und einsam in seinem Klassenraum verbracht hatte, stand er auf und wollte nur noch nach Hause. Er schritt über die lange Treppe nach unten. Trat durch den Haupteingang nach draußen. Es schneite

nun sehr, sehr heftig. Die Flocken fielen so dicht, dass man kaum zehn Meter weit sehen konnte.

Die Angst vor der Lehrerin wich der Angst, wie er denn nach Hause kommen sollte. Ihm wurde in der Seele kalt. Er schritt vorwärts. Den Weg nach Hause kannte er. Oft genug hatte er ihn zu Fuß zurückgelegt. Aber heute?

Sein Weg führte von der Schule durch eine schmale Gasse. Hier war das Schneetreiben erträglich. Die eng aneinandergebauten Häuser hielten die Unbillen des Wetters halbwegs ab. Als er jedoch zur Hauptstraße gelangte, sah er kaum mehr etwas, so dicht fielen die Flocken. Die Telefonzelle gut dreihundert Meter weiter unten nützte ihn nichts. Er hatte nicht die zwei Groschen übrig, um Mama anzurufen, Dass sie ihn holen kommen sollte. Die zwei Groschen waren weg. Die hatte der Hausmeister bekommen. Für den Kakao, den er am Mittag getrunken hatte. Dabei fiel ihm ein, dass die Mama heute doch den Papa von der Weihnachtsfeier abholen sollte. Sie konnte nicht also zu Hause sein. Ihm wurde langsam wirklich kalt. Er war scheinbar ganz allein. Allein am Nikolausabend. Links der Hauptstraße entlang stapfte er langsam zu der Abzweigung bei der Bäckerei, in der Mama immer die Frühstücksbrötchen holte am Sonntagmorgen. Hier bog er nach rechts ab. Die Straße nach Hause bot einen wenig

anheimelnden Anblick. Nur schwach beleuchteten die Laternen seinen Weg. Als er am Backhaus vorbeikam, roch es nach frischgebackenen Broten und auch nach Gebäck. Nach Weihnachten! Sanft schimmerte von rechts das Licht aus den Fenstern der Backstube auf die weiße Landschaft, die vor ihm lag. Er hatte gerade das große Tor zur Bäckerei passiert, als er ein leises „Sssst“ hinter sich vernahm. Er konnte doch nicht gemeint sein. Wer wollte schon etwas von einem Nachsitzer? Wieder hörte er das „Sssst“. Diesmal etwas lauter. Er drehte er sich nach rechts und suchte nach

der Quelle des „Sssst“. Und da stand vor ihm ein kleiner Kerl in schmutzig-weißen Bäckerklamotten und hielt ihm ein braun-gebackenes Etwas entgegen. Ein Etwas, was er zunächst nicht richtig einordnen konnte.

„Für Dich! Damit Du nicht so allein nach Hause gehen musst!“ Mehr sagte sein Gegenüber nicht. Bevor sich der Junge bedanken konnte, war sein Freund Sekunden später durch die Tür zur Backstube verschwunden. Der Junge steckte sein Geschenk unter die Jacke. Er war also doch nicht alleine in der Welt, hatte noch jemand, der an ihn dachte. Er hielt er sein

Geschenk im Schimmer einer Laterne ins Licht, freute sich und biss herzhaft hinein. Und tauchte frohgemut in die Dunkelheit hinein, die seinen Weg nach Hause barg. Mama weckte ihn am Nikolaustag sanft. Als er erwachte, sah er, wie sie seine Kleider in Ordnung brachte. Dabei fiel der angebissene Weckmann aus seiner Jacke. „Woher hast Du den denn?“ „Von einem Freund...!“ Jahrzehnte später fragte Jimmy, jener Freund, der Bäcker: „Weshalb musstest Du denn damals nachsitzen?“ „’Ich liebe Dich!’ hatte mir meine Lehrerin nicht dik-tiert!“