Erinnerung an mein Landjahrlager

Mathilde Gros, Eltville

Im April 1942 wurde ich aus der Volksschule entlassen. Damals wurden alle Mädchen verpflichtet, nach ihrer Schulzeit ein sogenanntes Pflichtjahr zu machen. Das konnte in einem kinderreichen Haushalt, auf einem Bauernhof oder aber in einem Landjahrlager abgeleistet werden. Ich wurde ausgesucht, das Jahr in einem Lager zu verbringen. Meine Eltern setzten umsonst alles daran, dies zu verhindern. Das Lager lag im Taunus, zwischen Neuweil-nau und Rod a.d.Weil. Früher war es eine Papiermühle gewesen, bis sie nicht mehr rentabel arbeitete. Sie wurde zunächst an die Zeugen Je-hovas verkauft, die aber zu Anfang des Krieges enteignet und vertrieben wurden. Das war uns Mädchen jedoch zum Zeitpunkt unseres Aufenthalts dort nicht bekannt. Wir waren achtzig Mädchen gleichen Alters aus allen Tei-

len Deutschlands. Einige kamen aus unserem Kreis Daun und aus Nachbarkreisen. Viele dieser Kameradinnen verewigten sich am Ende unserer Dienstzeit beim Abschiednehmen noch handschriftlich auf einer teilweise noch in Sütterlin geschriebenen Adressenliste, die ich noch heute habe. Gemeinsam durchlitten wir doch gleich am ersten Tag einen großen Schock. Er traf uns in den vormaligen Stallungen. Sie waren in einen einzigen riesigen Waschraum umgewandelt worden. Dort mussten wir auf Befehl uns alle nackt ausziehen zum Duschen. Wir waren doch derart scheu und verschämt. Keine einzige war von daheim aus so etwas gewohnt. Wir mussten aber dem Befehl „Auszie-hen!“ augenblicklich Folge leisten und wagten es nicht, uns auch nur umzusehen. Dadurch fühlten wir uns als Leidensgenossinnen verbunden. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als wir ein paar Wochen später etwas Ungewöhnliches bemerkten, keine von uns bekam mehr die Regel. Ganz sicher hat man uns etwas ins Essen gemischt, denn so blieben wir uneingeschränkt arbeitsfähig.

Neben der Lagerleiterin waren zwei Gruppenführerinnen zu unserer „Betreuung“ eingesetzt. Wir waren in mehreren Schlafsälen untergebracht, mit je acht bis zehn Stockbetten. Strohsäcke dienten als Matratzen, die allmorgendlich tüchtig aufgeschüttelt werden mussten. Jedes Mädchen hatte sein eigenes Spind. Beim Morgenappell wurden Betten und Spinde genauestens kontrolliert. Wehe, wenn ein Betttuch nicht glatt gespannt oder die Wäsche im Spind nicht auf Kante saß. Dann flog alles auf den Boden. Man musste wieder von vorne anfangen. Standen Schuhe nicht genau nebeneinander unter dem Bett oder waren sie nicht einwandfrei gesäubert und gewichst, bekam das nachlässige Mädchen sie um den Hals gebunden. Mit den Schuhen am Hals musste es den ganzen Tag seine Arbeit verrichten. Das war Strafe und Abschreckung zugleich! So wollte man uns Ordnung beibringen! Trotz all der Ordnung,

Sauberkeit und Aufsicht, schlichen sich dennoch unerwünschte Lebewesen ins Lager. Am Ende hatten alle Mädchen mit ihnen zu tun. Es waren Läuse. Wir kämmten sie uns gegenseitig aus den Haaren und suchten die Köpfe nach Nissen ab. Urlaub war überhaupt nicht vorgesehen für uns, auch Nachhausefahren war nicht erlaubt. Genauso wenig durften wir im Lager Besuch von daheim empfangen. Nur ein einziges Mal erhielt eine von uns Besuch von den Eltern, weil der Vater an die Front nach Russland musste. Da durfte sich die Tochter von ihrem Vater verabschieden. Unsere Arbeit war ungewohnt und schwer genug. Während die Hälfte der Mädchen im Einsatz auf den Bauernhöfen der Umgebung war, arbeitete die andere im Lagergarten, in der Küche, beim Wäschewaschen, Bügeln oder war mit dem Holzvorrat beschäftigt. Unser Dienst wechselte alle 14 Tage. Mein erster Einsatz war bei einer Bauernfamilie in Altweilnau. Die Besitzer betrieben mit ihrer einzigen Tochter eine kleine Landwirtschaft. Mir machte die un-

gewohnte Arbeit in Feld und Stall viel Freude. Weil aber alle 14 Tage Wechsel war und ich im Lager hätte Dienst tun müssen, forderte meine Bauernfamilie mich immer wieder mit einem neuen Antrag an, so blieb mir meistens der Lagerdienst erspart. Das Frühstück mussten alle Mädchen gemeinsam im Lager einnehmen. Oft gab es nur eine dünne Milchsuppe – mit Sago gekocht. Trotz des ständigen Hungers brachte ich keinen Löffel davon runter. Die „Froscheier“, wie wir Mädchen den Sago nannten, waren so glitschig und ekelhaft. Wir wurden auch beim Essen genau beobachtet. Trotzdem wartete ich auf einen günstigen Moment, den Mund voller „Froscheier“, die ich dann unbeobachtet schnell ins Taschentuch spuckte. Als zweites Frühstück wurden uns zwei Stück Kommissbrot zugeteilt, darauf war ganz dünn etwas Schweineschmalz gekratzt. Drei Kilometer ging ich mit einigen anderen Kameradinnen zu den verschiedenen Höfen nach Altweilau, wo wir hinbeordert waren. Kaum waren wir aus Lagersicht, verschlangen wir die

Schnitten bereits mit gierigem Heißhunger. Meine gute Bauernfamilie gab mir immer zuerst ein gutes Frühstück. Das war absolut gegen die Anordnung, denn beim Bauern sollten wir nur ein Mittagessen bekommen. Doch bevor ich gegen 18 Uhr zurück ins Lager marschierte, hatte ich auf dem Bauernhof bereits Abendbrot erhalten. Im Lager gab es dann das offizielle Abendessen. Kein Wunder also, dass die Landjahruniform innerhalb kürzester Zeit ein wenig eng wurde. Völlig unerwartet wurden wir alle im Herbst 1942 nach Rüdesheim verfrachtet und zur Weinlese im Rheingau eingesetzt. Das war für uns eine sehr willkommene Abwechslung. Drei Wochen lang gab es für uns keinen Morgenappell mit Fahnenhissen, keine Spind- und Bettenkontrollen! Damals konnte ich Gerol-steinerin nicht ahnen, dass der Rheingau später meine zweite Heimat werden würde. Im Dezember wurden wir nach neun Monaten aus dem Landjahr entlassen. Pflichtjahr aber hieß, ein volles Jahr Dienst zu tun. So kam ich anschließend für drei Monate noch in einen kinderreichen Haushalt. Das war für mich jetzt ein reines Kinderspiel und keine schwere Arbeit mehr. Ich musste nur die Kinder betreuen, und das machte mir große Freude. Mit der Tochter meiner guten Bauernfamilie von damals aber pflegte ich regen Kontakt, denn wir blieben Freundinnen bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren.