Mitten im Krieg in Gerolstein

Deutsch-französische Annäherung

Emil Lenzen, Köln

Nur noch wenige Bewohner unserer schönen Heimatstadt Gerolstein werden sich daran erinnern, dass es in den Kriegsjahren 1942 bis 1944 in der Heiligensteinstraße am Kriegsgefangenenlager für französische Soldaten gab. Das Barackenlager wurde nur einen Steinwurf entfernt von meinem Elternhaus und dem Haus der Familie Hunz auf städtischem Gelände, das zuvor für nicht zur Bebauung geeignet gehalten worden war, errichtet.

Das Lager diente der Aufnahme von ca. 80 franzosischen Soldaten. Tagsüber halfen sie in landwirtschaftlichen Betrieben oder bei Handwerkern aus. Die deutschen Männer waren überwiegend eingezogen und kamen oft monatelang nicht zu ihren Familien. Daher war die, wenn auch unfreiwillige, Hilfe zum Aufrechterhalten der Betriebe sehr begehrt. Abends kamen die Gefangenen in das Lager. Sie konnten sich aber frei bewegen, und an den Wochenenden hatten sie frei. Die Bevölkerung hatte sich bald an die Franzosen gewohnt und respektierte und achtete sie. Es handelte sich überwiegend um junge Männer aus ländlichen Gebieten Frankreichs, nur wenige kamen aus bekannten Städten. Damals war ich 14-16 Jahre alt und besuchte die Han-

v.li. „Alfred“ der franz. Soldat in Diensten des Ehepaares Laubenstein in den Kriegsjahren 1940-1944. In der Mitte Herr Laubenstein, daneben ein Lehrling

delsschule in Trier, zu der ich jeden Tag mit dem Zug fuhr. An dieser Schule harte ich auch Französischunterricht. Was war nahe liegender, als meine -anfangs noch spärlichen Französischkenntnisse bei den Soldaten, mit denen ich ungehindert Kontakt aufnehmen konnte, anzuwenden. Sie waren erstaunt und erfreut. Die Möglichkeit zur Begegnung wurde dadurch begünstigt, dass der Weg zu unserem Bienenhaus, das sich oberhalb des Lagers an einem Hang befand, unmittelbar am Lager vorbeiführte und ich meinem Vater dort oft half. Einige Soldaten interessierten sich sehr für das, was wir da machten und manche besaßen selbst Kenntnisse über die Bienenzucht. Schon bald

nannten wir uns bei den Vornamen. Die Soldaten nannten mich „Mimil“. Dabei betonten Sie das zweite „i“ besonders.

Einen Vorfall, der mir besonders gut in Erinnerung ist, möchte ich erwähnen: Als wir im Sommer den Honig „ern-teten“, musste ich die vollen Honigwaben in einer offenen Holzkiste in unser Haus tragen. Dort warteten meine Mutter und meine Schwestern, die die Honigschleuder bedienten. In meinem Gefolge waren zahlreiche Bienen, die etwas dagegen hatten, dass ihnen der Honig genommen wurde. Als ich nun auf dem unebenen Pfad mit meiner Ladung Honigwaben am Lager vorbeikam, stürzte ich samt Kiste. Bei meinen Be-

mühungen, den Schaden zu begrenzen und die Waben wieder einzusammeln, attackierten mich die Bienen heftig und ich bekam zahlreiche Stiche ab. Mein Treiben blieb von den Franzosen nicht unbemerkt. Einige sahen belustigt zu, andere bedauerten mich. Seit diesem Vorfall riefen sie mir immer zu „Mimil! Attention!“

Die Anwesenheit der Franzosen, die tagsüber auch im Ort anzutreffen waren, erregte das Interesse der Mädchen und Frauen; waren doch viele recht stattliche Burschen dabei, so dass ein zweiter Blick durchaus lohnenswert war. Besonders angetan war man von einem jungen Franzosen, der im Friseursalon Laubenstein in der Bahnhofstraße arbeitete. Es ist nicht erwiesen, dass der Salon durch die Anwesenheit des jungen Mannes besonderen Zulauf hatte, denkbar ist es aber. Ein weiterer netter Franzose arbeitete beim Uhrmacher Meyer am Rondell. Vom Rondell aus konnte man ihn bei der Arbeit beobachten, was er mit sichtlichem Wohlwollen zur Kenntnis nahm. Einer der französischen Soldaten. der durch seine große, kräftige Statur auffiel, arbeitete bei Landwirt Josef Schildgen (Regine Jupp genannt) in Merloch. Auch nach dem Krieg haben sie noch Kontakt gehalten. Josef Schildgen war nach dem Krieg jahrelang erfolgreich Bürgermeister von Gerolstein. Die Soldaten hatten sich schnell mit den Gegebenheiten abgefunden und

machten das Beste daraus. Natürlich litten viele sehr an Heimweh.

Unserem Haus gegenüber gab as eine städtische Garage, die als Küche für die Soldaten eingerichtet worden war. Abends und an den Wochenenden kochten die Franzosen dort für sich selbst. Die Düfte, die von dort zu uns hinüberwehten, ließen uns manchmal das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zum Beispiel waren die mehr als reichlich vorhandenen Weinbergschnecken für die Franzosen - nach entsprechender Zubereitung - eine Delikatesse. Uns erschienen sie zum Verzehr ungeeignet. Oft habe ich bei der Bruzzelei zugesehen, die angebotenen Schnecken habe ich aber nie probiert. Sie machten aber auch Pommes frites, die seinerzeit bei uns noch unbekannt waren. Die Gefangenen wurden aus ihrer Heimat auch mit Päckchen unterstützt. Für mich fiel dann oft ein Stuck Schokolade ab, die es bei uns überhaupt nicht mehr gab. Wir konnten uns überhaupt nicht vorstellen, wie es möglich war, dass die Soldaten so viele „Kostbarkelten“ aus der Heimat geschickt bekamen, wusste man doch, dass auch in Frankreich Lebensmittel rationiert waren. Wahrscheinlich sparten sich die Angehörigen alles vom Munde ab, um ihren Familienmitgliedern in der Gefangenschaft eine Freude zu bereiten. Ähnlich hielten es ja auch die deutschen Mütter und Frauen, um ihren Angehörigen mit einem Lebensmittelpaket aus der

geliebten Heimat neuen Mut zu machen.

So groß anfangs die Aufmerksamkeit war, die das Gefangenenlager erregte, so schnell musste sich jeder wieder darauf konzentrieren, die harten Kriegsjahre zu überstehen.

Einmal habe ich einen der französischen Gefangenen gefragt, warum er nicht versuche, zu fliehen. Möglichkeiten gab es genug. Die Antwort war so einfach wie einleuchtend: Frankreich war von den Deutschen besetzt. Bei der Heimkehr würde man doch wieder aufgegriffen. Da war es besser, das Ende des Krieges in Deutschland abzuwarten.

Das Lager wurde schneller als erwartet aufgelöst. Dass ich im letzten Kriegsjahr noch Soldat werden musste, haben meine französischen Freunde sehr bedauert. Die Häuser der Familien Hunz und Lenzen wurden im Januar 1945 von einem Bombenvolltreffer zerstört. Auch das Lager wurde in Mitleidenschaft gezogen. Die französischen Soldaten waren aber zum Glück nicht mehr dort.

Als nach dem Krieg zunehmend die deutschfranzösische Freundschaft propagiert wurde, habe ich mich gefreut, dass ich meinen bescheidenen Beitrag schon in jungen Jahren und zu einer Zeit, als das noch niemand für möglich hielt, leisten konnte. Gerne hätte ich nach dem Krieg einige meiner französischen Freunde wieder gesehen. Dazu ist es aber leider nie gekommen.