Brief aus Angola

Wilma Herzog, Gerolstein

Die Kopie dieses bemerkenswerten Briefes erhielt ich vom Verfasser selbst, Dr. Karl Wand, der mit Gattin im Sommer 2008 seine Heimatstadt Gerolstein besuchte. Der Inhalt vermittelt eine eindrucksvolle Vorstellung dessen, was in Gerolstein geschah, als der braune Strom des Nationalsozialismus begann, die christlich geprägte Eifel zu überfluten, um manchen darin mitzureißen. Viele Eifeler erkannten jedoch die Gefahr, und aufrechte Menschen, die sich tapfer gegen diese schäumenden Wellen stellten, mussten dafür, oft mit ihren Familien, einen hohen Preis zahlen. Der Brief berichtet davon. Darum ist er nicht nur wichtig für uns,

die damals noch ahnungslos Kinder waren, sondern auch für jene, die später geboren sind und wissen wollen, wie es hier war. Denn häufig wird über diese Zeit aus den großen Städten berichtet, hier jedoch schildert der Sohn, wie sein Vater, der Gerolsteiner Lehrer Ernst Wand, sich der braunen kühn Flut entgegenstellte.

Dr. Karl Wand 1920 in Ge-rolstein geboren, war 1983 Deutscher Botschafter in Luanda/Angola, als er diesen Brief an Bürgermeister Hans Günther Geiser schickte: „Herzlichen Dank für Ihren liebenswürdigen Brief vom 29. September 1983, den ich nach meiner Rückkehr in das vom Bürgerkrieg gequälte

Ernst Wand, Lehrer in Gerolstein Geb. 29.05.1891, gest. 03.10.1963

Angola vorfand. Eine längere ärztliche Behandlung hatte mich davon abgehalten, die

letzten hektischen Urlaubstage in Bonn mit einem Wochenende in Gerolstein abzuschließen. So werden wir uns erst 1984 unter den Dolomiten der Munterley, die ich in meiner Jugend zu den Wundern der Welt zählte, die Hand drücken. Es hat mich besonders bewegt, wie Sie meines Vaters gedachten. Mit seinem Leben war Gerolstein in der Tat schicksalhaft verknüpft. Für ihn, den preußisch erzogenen Hannoveraner, hätte die Stadt das Sprungbrett einer pädagogischen, vielleicht auch politischen Karriere werden können. So aber wurde Ge-rolstein nach Hitlers Einbruch Schauplatz einer Bewährung: er wollte lieber auf Beruf und Zukunft verzichten, als seinem christlichen Glauben und seiner patriotischen Überzeugung untreu werden. Bis zum Verlassen der Stadt 1939 gehörte er zu den Exponenten des Gerolstein Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Mein Vater liebte den „Flecken“, den er 1911 zum ersten Mal sah und in den er nach dem Ersten Weltkrieg mit Familie – er hatte 1917 in Paderborn Auguste Kaupmann geheiratet – sofort zurückkehrte. Selbst Katholik und konservativ, mit Vorfahren aus dem „dickköp-figen“ Eichsfeld, sagten ihm Fleiß und Gewissenstreue der Eifeler, die herbe Schönheit der Natur und der Reichtum der Geschichte und Geologie dieses Ortes zu. Er war begeisterter Lehrer. Auch die Schüler hingen an ihm. Viel Freizeit widmete er dem

DJK-Jugendsport und der Erwachsenenbildung. Sein Beruf war kein „Job“ sondern Lebensführung über die Schule hinaus. Mein Bruder Ernst war 15, ich 13 Jahre alt, als Hitler an die Macht kam. Wir hatten schon 1932 die „Höhere Knabenschule“ verlassen und besuchten die „Heimschule am Laacher See“, ab 1934 das Siebengebirgsgymnasium in Bad Honnef. Die Ferien verbrachten wir weiterhin in Gerolstein, bewohnten ein schönes Haus am oberen Waldstück der heutigen Raderstraße, nicht weit vom Haus meines Freundes Alois Mertes und erlebten, wie mein Vater mit der „neuen Zeit“ zunehmend in Konflikt geriet. Er war bis 1933 im Gemeinderat und Vorsitzender der Zentrumspartei. Auf vielen Wahlreisen hatten wir ihn über die Dörfer, nach Daun oder Hillesheim begleitet und Wahlplakate geklebt. Ein Plakat ist mir durch seine brutale, aber prophetische Aussage bis heute unvergesslich geblieben. Es warnte vor Hitler mit den Worten: „Soll es zum Dritten Reiche gehen, wo Köpfe rollen, Galgen stehen?“ Ich fragte meinen Vater, ob das Plakat nicht übertreibe. Er sagte, nein, er habe Hitlers „Mein Kampf“ gelesen. Wir müssten auf das Schlimmste gefasst sein. In Gerolstein wurde bei den Weimarer Wahlen fast nur Zentrum gewählt. Man war eben „kerndeutsch und treu-katholisch“ und lebte mit den wenigen Protestanten und Mitbürgern jüdischen

Glaubens in voller Harmonie. Wie auf die Ostereier freuten wir Kinder uns jedes Jahr auf die Matzen, wenn Levys am „Knippchen“ Passahfest feierten. Die letzte Wahl 1933 zerbrach dann das Idyll. Mein Vater war Wahlleiter in der St. Anna-Schule unter der Burg. Gerade sollten die Stimmen ausgezählt werden, als ein großer Haufen von SA-Leuten das Lokal stürmte, um „die Kontrolle selbst zu übernehmen“. Mein Vater protestierte laut, sprach von Verfassungsbruch. Er war auch empört, unter den sonst ortsfremden SA-Leuten zwei frühere Schüler zu entdecken, die zu den schlechtesten der Klassen gehörten. Da der einzige Ortspolizist nicht eingreifen konnte, verstand mein Vater bald die Ohnmacht seiner Lage. Er verließ tiefgeschlagen die Schule. Sein Gesicht sei „weiß wie Schnee“ gewesen, erinnerte sich meine Mutter. Die Wahlnacht wurde ein Schlüsselerlebnis wie auch in Gerolstein zum ersten Mal die Demokratie der rohen NS-Gewalt weichen musste. Es war sein letzter Sieg in der Niederlage, dass die SA-Leute die Stimmen nur auf 18 Prozent NSDAP zu manipulieren wagten. Mein Vater wurde anschließend aus dem Schuldienst entlassen, ihm jede Tätigkeit von Jugendbetreuung verboten. Vielleicht wäre ihm Schlimmeres passiert, wenn er nicht den Ruf eines besonders bewährten Patrioten gehabt hätte. Er war Offizier des Ersten Weltkrieges gewesen, besaß das Eiserne Kreuz 1. Klasse, hatte gegen die

Separatisten gekämpft und war von der französischen Besatzungsmacht einige Jahre ausgewiesen worden. Umso mehr ärgerten sich die Nazis, dass er sich nicht der neuen „Volksgemeinschaft“ an-schloss und sich kategorisch weigerte, der Partei beizutreten. Sie wussten um sein Ansehen in Gerolstein, um seine Freundschaft zu Pastor Rader, Bürgermeister Laroche, den alteingesessenen Familien wie Böffgen, Mertes, Daubach, Grün.

Um Gerolstein zu erobern, mussten sie erst meinen Vater gewinnen. Sie versuchten es mit Druck und Versprechungen, erreichten aber nur das Gegenteil. Mein Vater bäumte sich gegen den Strom. Alle, die kamen und seinen politischen Rat suchten, riet er ab, mitzumachen. Er empfand jeden sonntäglichen Kirchgang als einen Protest gegen die Nazis. Fronleichnam ging er mit Eisernem Kreuz auf dem Cut hinter dem Allerheiligsten her, während unter den Zuschauern die Zahl der Parteiabzeichen schon zunahm. Er ging ostentativ – wie bisher in ein jüdisches Geschäft, um seinen Tabak einzukaufen. Er kritisierte laut, dass man das „Kölner Kaufhaus“ jetzt boykottierte, während man sich vor 1933 von Fritz Mansbach als Karnevalprinzen noch hat beschenken lassen. Einmal schickte er uns mit einem Handwagen zum Bahnhof, um einer jüdischen Familie beim Transport der Koffer behilflich zu sein. Es war eine bewegende Szene

in unserem Hause, als Hanaus spät am Abend kamen und sich vor der Ausreise nach Frankreich in aller Hast verabschiedeten. Er hatte jüdischen Bürgern stets geraten, auszuwandern, ehe es zu spät sei. Die Entlassung aus dem Schuldienst dauerte nur einige Monate. Die Bevölkerung hatte sich so für ihn eingesetzt, dass er wieder zugelassen wurde. Doch war ihm verboten Unterricht in Geschichte, Deutsch und Sport zu geben. Noch immer hofften die Nazis, ihn mit Karriere zu locken. Einmal wurde er nach Trier bestellt und ihm eröffnet, auch ohne Parteieintritt einen hohen Posten zu erhalten: er brauche nur aus der Kirche auszutreten. Er wäre fast handgreiflich geworden, erzählte mein Vater später. Um etwas Schutz gegen Gestapo und Partei aufzubauen, wirkte er im Frontkämpferverband „Kyffhäuser“ mit. Hier suchte er Anschluss an gleichgesinnte frühere Offiziere. Es war seine stille Hoffnung, die er uns Söhnen mitgab, dass vielleicht die Reichswehr Hitler eines Tages stürzen würde. Wie sehr das misslang, erlebte ich selbst, als ich am 20. Juli1944 (nach dem Putschversuch des Grafen Stauffenberg) als Leutnant des Sicherheitsbataillons des Kommandanten von GroßParis mitwirkte, über 1000 Mann Gestapo zu verhaften. Da Hitler überlebte, und General von Stülpnagel in dem entscheidenden Gespräch mit Feldmarschall von Kluge nicht zum Letzten entschlos-

sen war, blieb die große Friedenschance verpasst. Wir mussten zwei Tage später die gefangenen SS Schergen wieder freigeben. Dass ich mit dem Leben davonkam, bleibt ein kleines Wunder. Auch wenn das 25-jährige Dienstjubiläum meines Vaters in der Öffentlichkeit noch gewürdigt wurde, er wusste, dass seine Tage in Gerolstein gezählt waren. Auch war er enttäuscht, dass alte Freunde „umfielen“ und große Parteikarriere machten. Auf die Postkarte eines Freundes vom Nürnberger Parteitag „Ich muss jetzt mitmachen, ich kann nicht anders“, schrieb er lakonisch zurück: „Ich kann auch nicht anders!“

Auch frühere Separatisten, die inzwischen auf Hitler umgeschwenkt waren, stellten ihm nach. Hinzu kam unser rebellisches Verhalten in der Schule. Natürlich war er innerlich stolz auf seine Söhne, auch wenn er äußerlich darunter zu leiden hatte. Ich wurde 1938 in Bad Honnef wegen „politischer Unzu-verlässigkeit“ durch einen „Gebietsbefehl“ öffentlich aus der Hitlerjugend ausgestoßen. In einem Begleitschreiben an meinen Vater in Gerolstein hieß es, er hätte mich „falsch“ erzogen. Da dieser Brief mehrere orthographische Fehler aufwies, strich er diese rot an und schickte das Schreiben kommentarlos zurück. Ich wurde daraufhin zum Rektor des Siebengebirgs-Gymnasiums; Prof. Saller, gerufen, der mir mitteilte, dass ich nach dem Abitur

nicht auf der Universität studieren dürfe. Als „Beleidigung des Führers“ wurde es auch aufgefasst, dass mein Bruder Ernst, der groß und blond war, die Aufforderung ablehnte, nach dem Abitur der SS beizutreten. Hatte mein Vater sich lange zwischen den Gerolsteiner Dolomiten gegen den Ansturm des Nazismus sicher gefühlt, so bröckelte der Widerstand doch mehr und mehr ab. Die Vertreibung der jüdischen Mitbürger, die Propagandaprozesse gegen Klöster und besonders gegen Bischof Bornewasser in Trier, die gesetzliche Tötung von Geisteskranken, die zunehmende

Bespitzelungen und Schikane zehrten an seiner Gesundheit. Er nahm 1939 schweren Herzens den Rat meiner Mutter an, die Möglichkeit einer Versetzung nach Köln wahrzunehmen, um weiteren Angriffen in der Anonymität einer Großstadt zu entgehen. Bei Kriegsbeginn wurde er noch einmal eingezogen, führte eine Panzernachschubkolonne in Russland, wurde nach dem Tod meines Bruders 1942 krank, entlassen und hat das Kriegsende unter den Trümmern Kölns überlebt. Für ihn war das Ende der Nazi-Diktatur eine Erlösung, aber er hatte nicht mehr die Kraft neu anzufangen. Als er zu einer

Gründungsversammlung der Kölner CDU von Dr. Adenauer eingeladen wurde, sagte er zu meiner Mutter: „Ich gehe in den Garten…“ Gerolstein hat er nicht wiedergesehen, aber die Stadt blieb sein verlorenes Paradies. Trotz aller erfahrenen Bitterkeit hat er nie pauschal über die Vergangenheit geurteilt, sondern menschlich differenziert. Um Stellungnahme gebeten, stellte er selbst dem letzten NS-Ortsgruppenleiter von Gerolstein ein Entlastungszeugnis aus: da dieser das Menschenmögliche noch getan und verhindert habe. Für unsere jüdischen Mitbürger war es zu wenig.