Allscheid –

unschuldig in Verruf geraten

Ein Dorf verschwindet von der Landkarte

Alois Mayer, Daun-Pützborn

Sommer 1851. Bauern bewirt- Das kleine Dorf Allscheid ist       aufgrund des schlechten schaften Äcker und Wiesen, „tot“, ist fast geschlossen in        Charak ters seiner Bewohner Kühe muhen in den Ställen. die USA ausgewandert, ver-        sich seinen Untergang selbst Hundegebell und Hühner- schwindet gänzlich vom Erd-      zuzuschreiben habe und gegacker in den kleinen boden. Dieser Ort lag dereinst      keiner brauche zu bedauern, Gehöften, Kinder gehen zur im Vulkaneifelkreis zwischen      dass „dieses Dorf der Spieler, Dorfschule, Frauen erledigen Darscheid und Steiningen           Faulenzer, Schuldner und geschäftig ihre mühselige und bildete poli tisch eine Ein-     anrüchiger Gestalten“ nicht Arbeit, aus den Schornsteinen heit mit Steiningen. Seither         mehr existent ist. Diese Besteigt Rauch. Ein Jahr später, sind verschiedene Veröffentli-     hauptungen sind, gleich wie Herbst 1852. Totenstille im chungen in unterschiedlichen     häufig sie ge braucht werden, gleichen Dorf. Kein Sichregen Medien über dessen Schicksal     falsch. Dieser Aufsatz soll der und kein Leben mehr zwi- erfolgt. Alle bergen aber in         Rehabilitierung dienen. schen leerstehenden Häusern. sich Aussagen, dass Allscheid

Dies schrieb Theodor Lonien in den Jahren 1922 - 1924. Seine Familie war nach Brasilien aus gewandert. In seinem Gedicht wird deutlich, wie sich innerhalb von wenigen Generationen Sagen bilden, die in ihrem Kern von Wahrem ausgehen, in ihrer Ausschmückung jedoch von der Person abhängig sind, die sie vom Hörensagen kennt,

weitererzählt und mit seinen Gedanken und Gefühlen anreichert.

Allscheid betrügt??

Allscheid, im 14. Jahrhundert im Besitz der Grafen von Daun-Manderscheid, war nie groß oder bedeutend. Es befand sich stets im politischen und wirtschaftlichen Schatten Steiningens, das an Besitz

viermal größer als das im schmalen Tal des kleinen Flüsschens Alf, mit feuchten und ertragsschwachen Wiesen und Feldern liegende Allscheid war. Die wenigen Häuser und Bewohner mit dem geringen Besitz an Agrar- und Waldflächen boten dazu kaum Chancen, wie die Entwicklung einiger Bevölkerungszahlen beweist:

Allscheid war kein Dorf gewesen, das aufgrund seiner Spieler- und Trinkerleidenschaft, seiner Faulheit und seines liederlichen Lebenswandels ausgestorben ist. Es hat auch absolut nichts mit „Raub, Mord oder eines Spielers Fluch“ zu tun, sondern nur damit, dass die bäuerliche Bevölkerung in der vulkanischen Hocheifel sehr schlechte Zeiten erlebte, geprägt von Hunger und Not; Zeiten, die jener kleinen Alfbachgemeinde keine Überlebenschancen mehr zu bieten schienen: harte Steuern, miserable Ernten, Viehkrankheiten. Bettelarm waren die Gemeinde und die meisten ihrer Einwohner in der Tat. Aber Bettler und Betrüger waren sie nicht, sondern Bauern, Tagelöhner und Hilfsarbeiter, ähnlich wie Menschen in all den anderen Eifel-Gemeinden ebenfalls. Hilfsaktionen und Bereitwilligkeiten konnten die Not jenes kleinen Dorfes mit

seinem geringen Land- und Waldbesitz und dem minimalen Steueraufkommen nicht lindern. Jahrelang ist im Beschlussbuch vermerkt: „Die Eingesessenen von Allscheid sind ganz verschuldet und durchweg bet telarm.“ Häufiger wurden ihnen deswegen Steuern erlassen, so 1846 auf Brandholz und Vieh; 1847 spendete der Gemeinderat Steiningen den verarmten Allscheidern 100 Scheffel Roggen, und ein Jahr später wurde ihnen sogar der Beitrag von 30 Talern zum Pfarrhausneubau Darscheid erlassen, „da die Aufbringung durch Umlage in der Unmöglichkeit liege, weil die Einge sessenen von Allscheid ganz verschuldet und durchweg bettelarm seien...“

Dabei war Steinin gen, das in manchen Allscheid-Schilde-rungen als ein habgieriges und hartherziges Dorf dargestellt wird, selbst so verarmt, dass es am Rande seiner

Existenz stand. 1847/48 -es waren Jahre schlimmer Missernten - konnte es zum Beispiel nicht mehr die erforderlichen Steuern aufbringen, und die eigenen Bürger bettelten den Gemeinderat an, ihnen aus den Waldungen Dielenholz zu überlassen. Es blieb Steiningen nichts anderes übrig, als 150 Taler von der Kommunaldarlehens kasse zu fünf Prozent zu leihen, um so die Steuerschuld zu begleichen. Dennoch hatte Steiningen stets einen „psychologischen Trost“: langfristig konnte es auf Grund seiner relativ großen Agrar- und Waldflächen der Schulden Herr werden.

Den Bewohnern Allscheids war dieser Trost nicht beschieden; sie erblickten nirgends einen Schim mer der Hoffnung oder einen Ausweg aus der finanziellen Trostlosigkeit. Auch wenn in Beschlussbüchern steht, dass

Jahr

Einwohner

Wohnhäuser

Jahr

Einwohner

Wohnhäuser

1557

ca. 15

3

1687

ca. 20

4

1563

ca. 20

4

1733

48

6

1583

ca. 15

3

1774

48

10

1654

ca. 10

2

1843

73

10

„Holzdiebstähle im Allschei-der Wald“ sich häuften, ist damit nicht gesagt, dass die „Diebe“ Allscheider gewesen sein müssen. „Holzfrevel“ gab es zu allen Zeiten - für Steiningen/Allscheid bereits 1506 belegbar; damals waren es Bürger aus Ulmen-Meiserich, die sich in fremden Waldungen unrechtmäßig bedienten. „Holzfrevel“ gab es in allen Gemeinden, nicht nur im Vulkaneifelkreis, sondern im gesamten Trierer Bezirk. Der Dauner Landrat erstattete darüber bereits am 29.9.1843 nach Trier Bericht:

„Die Gemeinde-Abgaben befinden sich auf einer nie gekannten Höhe. Die Gemeindewaldungen sind infolge der früher bestandenen und zum Teil noch nicht beseitigten Schuldverhältnisse, durch den bedeutenden Kostenaufwand für Schul-, Pfarrhaus-und Kirchenbauten, derart heruntergekom men, dass sie den gewöhnlichen Brennholzbedarf auch zur Notdurft nicht mehr zu decken vermögen, und dass der Schwachbemittelte bei den stets steigenden Holzpreisen sich zum Freveln gezwungen sieht.“

Und wenn eine Generation später in der Schulchronik Steiningen geschrieben wird, „bis auf einige gutsitu ierte Landwirte kann man die Einwohner Allscheids als Faulenzer, Bettler, Tagediebe und Kes selflicker bezeichnen, die im weiten Umkreis kein besonderes Ansehen genossen“, dann ist einer solchen Aussage eines ortsfremden und

milieuunkundigen Lehrers keinerlei Objektivität mehr beizumessen. Es bleibt nur bedauerlich, dass sich solche Lehrermeinungen nachhaltig und nachteilig in den Herzen Heranwachsender festset zten.

Allscheid - unverschuldet arm

Diese, seit vielen Generationen bestehende Armut und Hoffnungslosigkeit, war nicht immer so gewesen. Das beweisen eindeutig Daten von 1624, am Anfang des Dreißigjährigen Krieges.

Von den vier Haushalten in Allscheid bezogen drei aus der Landwirtschaft und einer aus einem Handwerk ihr Einkommen. Auch das Immobiliarvermögen wies aus, dass die vier Häuser in Allscheid mehr wert waren als die sieben Häuser im benachbarten Steineberg und nahezu gleich wie die im Nachbardorf Steiningen. Ob wohl die Ackerfläche in Allscheid geringer war als in Steineberg, war der Wert nahezu gleich. Dennoch war Allscheid an Immobiliarvermögen das ärmste Dorf in der Zentenei Steiningen, ob wohl es im Schnitt nahezu gleich war mit Steineberg und wesentlich reicher als Steineberg. Die Schichtung und Verteilung des gesamten Vermögens erweist, dass in Steiningen die meisten Armen, aber auch die Reichsten wohnten. Aufschlussreich ist, dass damals in Allscheid kein Armer unter 100 Florin (fl) Durchschnittsvermögen wohnte, auch wenn dieses lediglich den unteren bis mittleren Vermögensver-

hältnissen zuzurechnen war. 1624 stand Allscheid im Hinblick auf Pfandschaften und Schuld – es hatte weder einen Pfandinhaber noch einen Schuldner - wiederum in recht günsti gen finanziellen Verhältnissen, während in Steiningen nahezu jeder fünfte Haushalt verschuldet war. Was das Nettoeinkommen betrifft, wies Allscheid sogar mit seinem Schnitt pro Haushalt von 125 Florin we sentlich mehr aus als Steiningen (89 fl) und Steineberg (100 fl).

Krieg – Wurzel allen Bösen

Kurtrier hatte in Allscheid sieben Lehen, die normalerweise zusammen drei Malter und 11 1/2 Fass Hafer nach Daun ablieferten. Bis zum Dreißigjährigen Krieg gab es in dieser Hinsicht auch keinerlei Probleme. Aber dieser und die kommenden Kriege mit ihren Folgen leiteten den Untergang ein. Ab jetzt wird amtli-cherseits in regelmäßigen Abständen festgestellt, dass viele Familien in Allscheid nicht „in der Winnung“ waren, um ihrer Pacht und den Zehntleistungen nachzukommen. Häufig berichtete der Dauner Amtskellner von „pfleglossen lehen, werden verhoffentlich ins künftig auch in gang kom-men.“ Doch sie kamen nicht in Gang. Immer häufiger tauchen nun Schuldner in Schuldenlisten auf. Selbst die Zeit einer relativen Ruhe nach der Mitte des 17. Jahrhunderts konnte nicht mehr zu der einstigen Wirtschaftlichkeit beitragen. Eine beginnende Aufwärtsentwick lung wurde dann wieder jäh durch die

Französische Revolution gestoppt.

Die Unzufriedenheit in Allscheid in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wuchs in dem Maße, wie Gerüchte maßlos übertrieben, dass man „jenseits des großen Teiches, in Amerika“ sein Glück machen könne. Briefe und Berichte wurden herumgereicht von bereits relativ vielen Ausgewanderten aus der Pfarrei Mehren, besonders aus Steiningen und dem Gillenfelder Raum. Darinnen stand, dass sie in Amerika alle erheblich besser, freier und in größerem Wohlstand leben würden als in der preußischen Eifelheimat. Erzählungen von Goldfunden und einem leichten sorgenfreien Leben wander ten von Mund zu Mund. Der Glaube und die Hoffnung an bessere Zeiten wurden in der Fantasie der Allscheider schließlich zur fe sten Überzeugung und Wahrheit. Sie klammerten sich an diese Märchen wie Ertrin kende an einen Strohhalm, und bald entschlossen sich 19 Familien, gemeinsam nach Amerika aus zuwandern, um dort ebenfalls zu Reichtum und Glück zu kommen. Nach und nach wurden Felder und Wiesen, Mobiliar und Vieh verkauft. Und auf einmal hatten die Auswanderungswilligen so viel Geld in ihrer Tasche wie noch nie im Leben. Statt die Felder mit der Herbstsaat zu bestellen, saßen einige den Winter über in den Wirtschaften der Nachbardörfer Darscheid, Steinin gen und Mehren und diskutierten über

ihre Pläne, im kommenden Frühjahr auszuwandern. Wie Abenteuerlustige träumten und schwammen sie auf einer Woge des Glücksgefühls. Manches Glas Schnaps mag mit zu dieser Hochstimmung als auch zu hitzigen Wortgefechten zwischen be geisterten Allscheidern und anderen beigetragen haben, die nicht begreifen konnten, wie man Hab und Gut, das Erbe der Vorfahren von heute auf morgen im Stich lassen kann, um im Ungewissen fernab von Heimat, Freunden und Verwandten eine neue Existenz aufzubauen.

Allscheid betrogen??

Seit Bestehen der beiden Dörfer gehörten Allscheid und Steiningen politisch zusammen. Nur kirch lich wurden sie 1803 getrennt, als Allscheid zur Pfarrei Darscheid kam und Steiningen bei Mehren verblieb. Nun beobachtete Steiningen mit wachsender Sorge die Allscheider, die den größten Teil ihres Vermögens bereits verpfändet oder veräußert hatten. Was würde sein, wenn ihre Nachbarn die wenigen Habseligkeiten und das bisschen Geld restlos verlebt und ausgegeben hätten? Mit Sicherheit müssten dann die finanziell schwachen Bürger von Steiningen auch noch die meisten Allscheider wie „Sozialhilfeempfänger“ ernähren und unterstützen. Aus dieser Er kenntnis heraus, befürworteten sie deren Auswanderungspläne. Als nun das Frühjahr 1852 den Schnee aus dem Alfbachtal wegtaute, war jedoch nir-

gendwo erkennbar, wie und wann die Allschei der wegziehen würden. Daraufhin fasste der Gemeinderat Steiningen-Allscheid am 22. Mai 1852 den einstimmigen Beschluss, alles noch vorhandene Gut, die Äcker, Wiesen, Felder und Wälder sowie sämtlichen Gebäude aufzukaufen. Vertragsklauseln zwangen nun die Allscheider, ihren Auswanderungswillen auch in die Tat umzusetzen. Der folgende (gekürzte) Original-Gemein-deratsbeschluss, verhandelt zu Steiningen am 22.5.1852, gibt darüber Auskunft: Anwesend waren: die Gemeinderatsmitglieder

1. Johann Adam Michels, Ortsvorsteher

2. Johann Adam Schüler

3. Matthias Lehnerz

4. Johann Josef Thelen

5. Nikolaus Schäfer

6. Peter Demerath von Allscheid

7. Matthias Josef Roden

(Den Wert des Waldes hatte geschätzt: Communal-Ober-förster Müller von Daun; den Wert des Privateigentums die Kommission: 1. Johann Adam Schüler; 2. Matthias Lehnerz; 3. Johann Adam Michels; folgende Bedingungen wurden festgesetzt):

1. Der Preis für den Wald ist festgesetzt auf die Summe von 3000 Taler, welcher Betrag vor zugsweise und ausschließlich zur Bestreitung der Überfahrtskosten für die Auswandernden und die Kosten der Übersiedlung nach Steiningen hinsichtlich der drei nicht auswandernden Familien bestimmt ist,……

2. Der Preis für die Privat-ländereien ist bereits ebenfalls durch die auf Grund der früheren Taxationen mit den einzelnen Privateigentümern von Allscheid, unter Vorbehalt der Genehmigung der provisorisch abgeschlossenen Kaufverträge, festgesetzt, und zwar für das gesamte Grundeigentum der neunzehn verschiedenen Verkäufer für 2200 Taler. Die kaufende Gemeinde Steiningen tritt sofort nach erfolgter Genehmigung der königlichen Regierung in Besitz und Genuss… Der Gemeinderat beschließt, um fernere Ansiedlungen unmöglich zu machen, dass … alle den bisherigen Ort Allscheid bildenden Gebäulich-keiten auf Kosten der Gemeinde niedergerissen werden. In Betreff der Aufbringung des Fonds ist erforderlich:

1. Kapital für den Wald

3000 Taler

2. desgleichen für Privateigentum               2200 Taler

3. für Niederreißen der Gebäude                   150 Taler

4. für Kosten        200 Taler

=========

zusammen 5550 Taler.

(Da die Gemeinde Steiningen dieses Barkapital nicht hatte, erklärte sich der Gutsbesitzer Nikolaus Hölzer von Daun bereit, den Betrag vorzuschießen.

Es erfolgen dann Bedingungen, wie diesem das Geld plus 5,5 Prozent Zinsen zurückzuzahlen ist, zum Beispiel durch Land- und Hausverkäufe, durch Buchenbestände im Gemeindewald und anderes mehr.)

Schließlich beschließt der Gemeinderat, die königliche Regierung um Genehmigung des vorstehen den Beschlusses in allen seinen Teilen ganz er-gebenst zu bitten.“ (Es folgen die Unterschriften.)

Das Allscheider Gemeinderatsmitglied Peter Demerath hat sich mit Sicherheit nicht erpressen oder unter Druck setzen lassen, sondern mit seiner Unterschrift den gesamten Willen des Ortes zum Ausdruck gebracht. Wären nicht alle Familien mit diesen vertraglichen Maßnahmen einverstanden gewesen, hätte es lediglich eines Einspruches bei der Dauner Kreisverwaltung oder bei der BezirksRegierung Trier bedurft, um diesen Vertrag hinfällig werden zu lassen, erst recht, da es allen Po litikern sehr daran gelegen war, Auswanderungswillige und Kapital in Deutschland zurückhalten.

Die königlich-preußische Regierung prüfte die Angelegenheit und genehmigte letztlich diesen Ver trag. Er war rechtens und im Einverständnis aller Betroffenen und mit Zustimmung des Allscheider Gemeinderatsvertreters Demerath geschlossen. Von einem Vertrag, „der an Raffiniertheit und Rücksichtslosigkeit wohl seinesgleichen sucht“ (Schulchronik), kann also keine Rede sein. Auch die bis heute bestehenden und geäußerten Meinungen, die Steininger hätten die Allscheider erpresst, und die wenigen Begüterten aus Allscheid hätten auf der Erfül-

lung des Vertrages bestanden, um so günstig an Land und Vermögen der Verziehenden zu kommen, gehören ins Reich der Phantasie.

Allscheids Exodus

Damit war das Schicksal des Dorfes besiegelt. Mindestens 18 Familien aus Allscheid wanderten im Juli 1852 nach Ame rika aus, insgesamt 73 Personen (19 Jungen und 26 Mädchen unter 18 Jahren -darunter 5 Säuglinge von 3 Wochen bis zu 6 Monaten -, 12 männliche und 16 weibliche Personen über 18 Jahre). An bekanntem Vermögen nahmen sie rund 2000 Taler mit, das waren durchschnittlich 27 Taler pro Kopf. Damit lag das mitgenommene Vermögen weit unter dem Durchschnitt anderer Amerikaauswanderer und zeugt von der großen Armut der Allscheider Dorfbevölkerung. Das mitgenommene Durchschnittsvermögen der Auswandernden des Kreises Daun im Jahre 1852 betrug mehr als 99 Taler! Etliche Auswanderer hatten so gut wie kein Bargeld, hätten die Schiffskosten nicht bezahlen können. Sie erhielten „Ausreisemittel aus dem Verkaufserlös des Gemeindewaldes Allscheid sowie Unterstützung durch Kreis“, vermerken die Akten. Aus zahlreichen Leiterwagen bestehend, zog sich der „Treck“ des Fuhrunternehmers Hölzer (Mehren/Daun) mit den Auswan dernden hin, der sie nach Antwerpen zum Schiff bringen ließ. Dort bestiegen sie das Schiff ANTARCTIC. Nach einer stra-

pazenreichen Überquerung erreichten sie den Hafen in New York am 3.9.1852. Der Abschied fiel den Einwohnern Allscheids gewiss nicht leicht, verließen sie doch die Heimat, die ihre Vorfahren durch Jahrhun derte geprägt hatten, tauschten gewohnte Geborgenheit gegen eine ungewisse Zukunft mit all ihren Bedrohungen und Ängsten. Nicht Gier nach Gold, Faulheit oder sittliche Verwahrlosung waren die Ursachen, die in den vergangenen- Jahren eine Vielzahl Bürger die Eifel und den Kreis Daun verlassen ließen. „Drei Hauptgründe für die Auswanderung gibt es“, schrieb der Dauner Landrat am 19.3.1852 nach Trier: „1. Die häufig wiederkehrende Teuerung der Lebensmittel. 2. Der allgemeine Mangel an Arbeit und Verdienst und die durch die beiden Punkte genährte Furcht vor endlicher gänzlicher Verarmung, und 3. der Druck der zu hohen Abgaben und Steuern...“ Die Auswanderung war auch nicht typisch für den Ort Allscheid, denn bereits viele Jahre vor 1852 und auch noch Jahre danach waren und sind Bewohner aus Steiningen ebenfalls nach Amerika ausgewandert. Sensationell war nur, dass in besagtem Jahre nahezu ein ganzes Dorf die Eifel verließ und anschließend niedergerissen wurde.

Drei Familien (Henn, Heinz, Demerath) blieben. Sie siedelten ein Jahr später nach Steiningen um. Familie Weber blieb durch Einheirat

ebenfalls in Steiningen; Familie Maus/Sadler zog nach Steineberg; aus der Großfamilie Burghard einige nach Demerath; die Familie Braun nach Mehren. Die letzte Einwohnerin aus Allscheid, Witwe Helene Jungen, geb. Henn, * 22.11.1852, verstarb am 12.1.1929 in Steiningen. Der letzte Allscheider war der am 16.12.1850 geborene, blinde Leierkastenspieler Johann Sadler, Sohn von Michael und Eva Maus. Er starb am 16.10.1935 in Steineberg.

Lügen ranken

Ein halbes Jahr nach der Auswanderung (Frühjahr 1853) wurden alle Bauernhäuser, Scheunen und Stallungen Allscheids abgerissen; nur die kleine, elf Schritte lange und fünf Schritte breite Dorfkapelle, blieb stehen. Sie verfiel in den kommenden Jahren und wurde polizeilich geschlossen. 1868 genehmigten der Kirchenvorstand von Darscheid und das Bistum Trier den Abriss. 1877 erbaute Johann Adam Demerath aus Steiningen, wenige hundert Meter vom ursprünglichen Standort ent fernt, an der Straße eine neue Kapelle zum Andenken an das ausgewanderte Dorf. Die Kosten bestritt er teils aus dem Ertrag des Opfers aus Allscheid, größtenteils aber aus eigenen Mitteln. Nun konnten Sagen und Gerüchte wachsen. Es dauerte nicht lange, und die einen wollten wissen, dass das ärmliche Allscheid ein Dorf voller Spieler, Räuber und Mörder gewesen war, und die ande ren, dass die

„bösen Steininger“ unschuldige Menschen zum Auswandern zwangen. Ein Beispiel von vielen soll der Pressebericht des Mehrener Pfarrers Specht sein, den er 1912 im Eifelvereinsblatt veröffentlichte, und der erkennen lässt, wie weit die Wahrheit sich schon vom Gerücht entfernt hatte: „Einzig dürfte der Fall dastehen, dass ein Dorf wegen des minderwertigen Charakters seiner Bewohner von einem Nachbardorfe aufgekauft und dem Erdboden gleichgemacht wurde .... Die Bewohner von Allscheid waren als Bettler, Faulenzer und Diebe vielfach berüchtigt. Im Winter 1851/52 saßen in Steiningen mehrere Dorfpolitiker zusammen hinter dem Ofen, als einer von ihnen den Wunsch aussprach: „Wären die Allscheider nur glücklich in Amerika.“ Dieser Wunsch fand Beifall, und so kauften dann einige Monate später die Bürger von Steiningen den Allscheidern sämtliches Eigentum ab unter der ausdrücklichen Bedingung, dass die Verkäufer nach Amerika auswanderten....“

Andere wollten wissen, die Allscheider seien nie in Amerika angekommen, ihr Schiff sei unter wegs untergegangen. Dritte wieder behaupteten, die Auswanderer seien alle in Amerika zugrunde gegangen. („Wie dem Orte, so erging es seinen Bewohnern: in einem fremden unverstandenen Land sind sie verdorben und gestorben. Niemals mehr ist eine Kunde heimgedrungen von dem Schicksal der Familien

und ihrer Angehörigen..“; Eifelvereinsblatt 1932, S. 28). Aber all dies gehört ins Reich der Phantasie. Es liegen mehrere untrügliche Beweise vor, dass die ausgewanderten Familien sehr wohl in Amerika ankamen, sich dort niederließen und eine eigene Existenz aufbauen konnten.

Zum einen besuchte Maria, die Tochter der ausgewanderten Familie Dreis, 1889 Steiningen und konnte vom Schicksal der übrigen Auswanderer berichten, zum anderen besitzt Familie Hubert Häb, Steiningen, einen Brief aus St. Paul, Minnesota, vom 11.5.1890 in dem es unter anderem heißt: „...Wir sind sehr froh, dass wir nach Amerika gegangen sind und haben uns hier besser ge holfen als wir es in Deutschland hätten tun können... Mutter wünschte sich oft, dass alle armen Leute in Deutschland so satt

wären wie wir... Die Kinder sind gut verheiratet und haben ein gutes Auskommen...“ Unterschrieben hatte ihn die Auswanderin Maria Gertrud Dreis, damals 71 Jahre alt. 1958 besuchten deren Enkel Leslie M. Dreis und sein Sohn aus Long Beach Steiningen und die Fluren des ehemaligen Dorfes Allscheid, das seine Vorfahren vor über 100 Jahren verlassen hatten.

Bis heute bestehen Kontakte zu einigen der damals ausgewanderten Allscheider Familien, und dank des neuen Mediums – Internet – eröffnen sich gänzlich neue Verbindungen zu den heute noch lebenden Nachkommen jener Ausgewanderten, gleich ob es die Familien Maus, Dreis, Neis und andere sind. Mehrmals berichtete die Presse über Besuche von Amerikanern – Nachkommen der Allscheider – die in den letzten Jahren die

einstige Heimat ihrer Vorfahren aufsuchten.

1990 errichtete die Gemeinde Steiningen neben der Erasmus-Kapelle eine Gedenktafel, die dem Besucher einen kurzen Überblick über die Geschichte von Allscheid und dem Verbleib deren Bewohner gibt.

Literatur:

Mergen Josef, Auswanderung Kreis Daun, Daun 1958

Mayer Alois, Steiningen 1193-1993, Daun 1992

-,- Der blinde Johann Sadler, in Steineberg - in Geschichte und Geschichten -,- Familienbuch Amt Gillenfeld 1800-1900 (Privatarchiv) -,- Familienbuch Pfarrei Demerath 1800-1900 (Privatarchiv) -,- Familienbuch Pfarrei Darscheid 1800-1900 (Privatarchiv) -,- Familienbuch Pfarrei Mehren 1728-1900 (Privatarchiv)

-,- Familienbuch Pfarrei Daun/Neunkir-chen 1660-1900 (Privatarchiv) -,- Familienbuch Pfarrei Dockweiler 1800-1900 (Privatarchiv) Weitere Personen- und Auswanderungsdaten finden sich bei Tonner Karl-Josef und Wisskirchen Friedbert, Daun

Auswanderer aus Allscheid (Juli 1852):

1. Nikolaus Becker, Tagelöhner, * 15.07.1800 in Allscheid mit:

1a zweiter Ehefrau Maria Anna Neumes * 04.05.1817 in Schönbach

und den Kindern:

1b Anna Maria * 01.12.1831 in Allscheid

1c Kaspar * 09.04.1835 in Allscheid;

1d Johanna * 15.12.1836 in Allscheid

1e Matthias Josef * 24.08.1839 in Allscheid

1f Peter Josef * 23.11.1850 in Allscheid

2. Gertrud Burghard, Tagelöhnerin, * 28.2.1807 in Allscheid mit den ill. Kindern: 2a Eva Maria * 04.08.1838 in Allscheid

2b Jakob * 01.05.1841 in Allscheid

2c Margaretha * 08.04.1845 in Allscheid

3. Anna Maria Burghard, Tagelöhnerin, * 28.09.1809 in Kottenborn (Schwester v. Nr. 2) mit ill: 3a Sohn Jakob * 16.9.1835 in Allscheid

4. Anna Maria Burghard * 15.05.1837 mit ihren Geschwistern 4a Katharina Burghard * 18.08.1839

4b Christine Burghard * 07.01.1849

(Deren Eltern Jakob u. Margaretha Schröfer (Schreffer) wanderten aus, kehrten dann aber wieder

zurück)

5. Philipp Burghard, Tagelöhner, * 1814 in Allscheid mit: 5a Ehefrau Katharina Münch, * 1821 in Ettringen

und den Kindern:

5b Maria Katharina * 14.11.1843 in Allscheid

5c Barbara * 17.01.1846 in Allscheid

5d Johann * 22.06.1849 in Allscheid

5e Anna Maria * 6.02.1852 in Allscheid

6. Johann Georg Escher, Maurer, * 1806/07 in Treis mit:

6a Ehefrau Katharina Ternes, * 1808/09 in Udenhausen und 6b Johann * um 1839 in Udenhausen, rk 6c Anna * um 1842 in Udenhausen, rk 6d Elisabeth * um 1844 in Udenhausen, rk 6e Sohn Philipp * 08.02.1848 in Allscheid

7. Peter Josef Dreis, Tüncher, * 07.01.1820 in Allscheid mit

7a seiner Mutter Gertrud Weber, * 30.05.1781 in Steiningen, Witwe von Lorenz Dreis, und mit

7b Ehefrau Maria Gertrud Neis, * 22.01.1818 in Weiersbach und deren Kinder (aus l. Ehe mit dem

am 21.2.1843 verstorbenen Tüncher Jakob Dreis):

7c Johann * 16.7.1840 in Allscheid; + 4.8.1864 in USA

7d Peter Josef * 05.07.1842 in Allscheid

und den eigenen Kindern:

7e Anna Maria * 07.11.1844 in Allscheid

7f Magdalena * 23.09.1846 in Allscheid

7g Margaretha * 28.11.1848 in Allscheid

7h Martin * 14.02.1851 in Allscheid

8. Matthias Josef Maus, * 07.09.1819 in Allscheid; + 01.01.1886 St. Michael und

8a zweite Ehefrau Katharina Schömann, * 16.09.1819 in Greimerath und den Kindern aus 2. Ehe: 8b Johann * 04.11.1851 8c Peter * 10.05.1853

9. Gerhard Mayer, ledig, * 1826 in Bruchhausen (heiratete 1856 in USA in mit Witwe Anna Elisabeth Neumes * 2.8.1820 in Schönbach, Schwester von Nr. 13) mit:

9a Bruder Johann Adam, ledig, * 23.02.1834 in Allscheid 9b Schwester Gertrud, ledig, * 13.08.1836 in Allscheid 9c Bruder Nikolaus, ledig, * 12.03.1839 in Allscheid

10. Maria Katharina Maus, * 04.02.1785 in Allscheid, Witwe von Matthias Willems

11. Johann Josef Mayer, Tüncher, * 30.09.1827 in Bruchhausen (Bruder v. Nr. 8) mit: 11a Ehefrau Christine Willems, * 07.10.1826 in Allscheid (Tochter von Nr. 10) und 11b Sohn Gerhard * 02.01.1852 in Allscheid

12. Johann Willems, Tagelöhner, * 27.6.1821 in Allscheid (Sohn von Nr. 10; Bruder von 11a) mit:

12a Ehefrau Klara Mayer, * 18.7.1829 in Bruchhausen (Schwester von Nr. 8 und 9)

und den Kindern:

12b Gerhard * 04.12.1849 in Allscheid

12c Katharina * 21.06.1852 in Allscheid

13 Peter Josef Neumes, Tagelöhner, * 30.5.1822 in Schönbach mit:

13a Ehefrau Franziska Schmitz, * 1819/20

und den Kindern:

13b Anna Elisabeth * 11.04.1849 in Allscheid

13c Maria * 09.02.1852 in Allscheid

(Familie kehrte von Amerika zurück, ließ sich in Schönbach nieder und wanderte 1871 erneut

aus; Nachkommen leben noch in Little Black, Wisconsin)

14. Jakob Reiser, Nagelschmied und Pflasterer, * 10.07.1800 in Rommelsbach mit: 14a zweiter Ehefrau Maria Schäfer, * 04.07.1807 in Ulmen

14b Tochter Anna Katharina Schäfer, * 04.03.1838 in Allscheid

15. Gertrud Schneider, * 04.04.1830 in Allscheid mit ihren Geschwistern:

15a Maria Katharina * 12.05.1832 in Allscheid 15b Maria Anna * 13.10.1834 in Allscheid 15c Anna Maria * 28.11.1836 in Allscheid

16. Maria Anna Schreffer, * 1810 in Flussbach, Witwe von Johann Josef Schuh, Darscheid, und Matthias Schmitt aus Allscheid

und den Kindern:

16a Eva, * 05.01.1842 in Allscheid

16b Margarethe * 18.08.1848 in Allscheid

17. Lorenz Schreffer, * 13.4.1824 in Allscheid mit:

17a Ehefrau Anna Maria Theisen, * 24.09.1824 in Daun-Neunkirchen und 17b Sohn Johann, * 24.09.1849 in Gillenfeld

18. Anna Maria Willems, * 1.5.1813, Allscheid, Witwe von Johann Thelen mit Kindern: 18a Johann * 10.10.1842 in Allscheid

18b Johann Adam * 21.04.1850 in Allscheid

Das Spielerdorf

1. Umringt von Wald und Heid noch liegt ein Trümmerfeld mit Dorngestrüpp verwachsen des Dorfes Stätt‘ nebst Feld

2. Die Bauern nicht mehr baut des Dorfes fette Flur. Die Arbeit war vergessen. Man spielt und würfelt nur.

3. Der Hunger ward Gefährte, blieb stets uns treu zur Seit‘. Er rief noch andre Helfer, wie Kummer, Sorg und Leid.

4. Die Armut war zur Stelle und machte mächtig breit sich mit der alten Freundin der Unzufriedenheit.

5. Das Spiel verdarb die Sitten und hat von Mein und Dein verwischt die alten Grenzen, nur Laster folgten drein.

6. Es konnte niemand leben in diesem Spielerort; umloht von Streit und Hader von Raub und Brudermord.

7. Die Dorfbewohner zogen fort in die weite Welt. Das Dorf ist längst verfallen, verwildert heut‘ das Feld.

8. Jedoch die Sagen melden vom Spielerdorf nur Trug; verschwunden und verschollen -das ist des Spielers Fluch!