Kinder können gute Geister sehen

Eine wahre Familiengeschichte, die zu denken gibt

Gertrud Knobloch, Starnberg

Die Frau, die mir diese Geschichte erzählt hat, war meine Mutter und sie hatte sie gemeinsam mit ihrer um drei Jahre älteren Schwester um 1900 erlebt, denn sie war 1892 geboren. Meine Mutter und ihre ältere Schwester schliefen damals zusammen in einem recht großen Zimmer eines Bauernhofes, der noch nicht lange im Besitz meines Großvaters war. Wir Kinder wussten wohl, dass er schon einmal verheiratet gewesen war und den Hof geerbt hatte, in den er damals einheiratete. Eines Nachts wachte Mutter, die Jüngere der beiden, auf und sah am Fußende ihres Bettes eine weiße Gestalt stehen, die wie ein Engel wirkte. Sie be nahm sich auch als solcher, denn sie deckte gerade die freigestrampelten Füße der beiden Mädchen zu und sah Mutter liebevoll an. Dann verschwand sie, ihr Bild löste sich auf.

Mutter erzählte daraufhin morgens ganz aufgeregt am Frühstückstisch, sie habe ihren Schutzengel gesehen! Die Verwunderung in der Familie war groß und Mutter wurde ausgefragt. Doch mehr, als sie erzählt hatte, wusste sie nicht zu berichten. Der Großvater, der auch mit am Tisch saß, schaute ganz betreten drein. Dann wechselte er einen Blick mit der Großmutter, die seine zweite Frau war und begann zu erzählen: „Als ich damals meine erste Frau heiratete, sah sie aus ‚wie

Milch und Blut’, aber dieses blühende Aussehen trog. Sie hatte die Schwindsucht, wie man damals die weit verbreitete Tuberkulose-Erkrankung nannte. Sie war nicht nur bei bitter armen Stadt bewohnern, sondern auch in Bauernhöfen sehr verbreitet, weil sie oft durch verseuchte Kühe im Stall und durch die Milch dieser Kühe über tragen wurde.“ Es dauerte noch lange, bis gegen diese verbreiteten Er krankungen wirksam vorgegangen werden konnte, und die Hungerjahre der beiden Weltkriege waren nicht dazu geeignet, sie einzudämmen. „Der erste Schicksalsschlag traf uns schon bald“, erzählte Großvater weiter: „Unser erstes Kind starb bald nach der Geburt an Krämpfen. Und meine Frau wurde kurz darauf bettlägerig. Wir wussten es bald beide, dass es für sie keine Hoffnung gab. Jede freie Minute saß ich an ihrem Bett, das wir ins Wohnzimmer gestellt hatten. Eines Tages betrachtete meine Frau durchs Fenster eine Krähe, die am Rad der dort stehenden Karre Wagenschmiere abpickte. ‚Schau, Phillip’, sagte sie zu mir, ‚die Krähen machen die Karre für mich fertig!’ – ‚Glaube nicht so dummes Zeug’, entgegnete ich ihr, ‚aber leider wissen wir ja beide, dass wir nicht mehr lange zusammensein dürfen. Ich bitte Dich: Wenn Du die Möglichkeit hast, ein mal wiederzukommen, dann tue das. Du

bist mir immer willkommen!’ Das sollte sie trösten und auf den Himmel hinweisen. Mir war es bitter ernst damit. Denn bald darauf starben meine Frau und kurz darauf der Schwie gervater. Ich war ganz allein, und alles geschah im selben Jahr. Das war das schwerste Jahr meines Lebens, und darüber bin ich so schnell nicht hinweggekommen. Sollte der Engel, den Du gesehen hast, Lenchen - meine erste Frau - gewesen sein? Denn euer Zimmer war früher unser Schlafzimmer. Als ich zum zweiten Male heiratete, suchte ich mir bewusst ein anderes Schlafzimmer aus, wenn es auch nicht so groß ist!“ Betreten lauschte die Familie den Worten des Großvaters. Und Mutter glaubte ihr Leben lang fest daran, dass der Geist, den sie gesehen hatte, diese erste verstorbene Frau ihres Vaters ge wesen war, wenn sie sich ihr gegenüber auch verhalten hatte, wie ein Schutzengel. Vielleicht war sie der gute Geist des Hauses geblieben, denn alle acht Geschwister aus zweiter Ehe erreichten das Erwachsenen alter, was damals eine Seltenheit war. Vom Tod des ältesten Sohnes abge sehen, der mit knapp zwanzig Jahren an Blinddarmvereiterung sterben musste, blieb die Familie zu Lebzeiten der Großeltern von allem Unglück verschont, vielleicht weil ein besonderer guter Geist über sie wachte?