Pferdeäpfel in Mümmelmanns Hut

Erinnerungen an Gerolsteiner Volksschulzeit

Emil Lenzen, Köln

Unser Start ins Schülerleben fand 1934 ganz still, ohne viel Aufwand statt. Schultüten waren nicht zu sehen, als Lehrer Brücker uns in der alten Gerolsteiner St. Annaschule erwartete. Unser ruhiges Erstklässler-Leben änderte sich abrupt schon nach einem halben Jahr, durch die Pensionierung unseres Lehrers. Jetzt übernahm Herr L. als Klassenlehrer das Regiment - im wahrsten

Sinne des Wortes. Ihm war von älteren Jahrgängen der harmlos anmutende Spitzname „Mümmelmann“ zugeteilt worden. Oftmals zeigte er sich unbeherrscht und jähzornig und sollte uns viele Jahre das Schülerleben schwer machen. Er neigte auch zu überzogenen Bestrafungen, gab uns dennoch viel wichtiges Rüstzeug fürs Leben mit. Damals wurden die Kinder in der Schule allgemein mit dem

Rohrstock bestraft. Doch der neue Lehrer zog uns Jungen dafür auch noch übers Knie oder schlug mit dem Stock auf die Innenfläche der Hände, was besonders weh tat. Die Mädchen schlug er auf die Backe, oder mit dem Stock über den Rücken. Besonders arg waren seine Bestrafungen, weil er uns dabei beschimpfte. Wollte er mit der Hand zuschlagen, zeigte er uns vorher die Innenfläche und schrie:

Emil Lenzen ist der Junge mit dem Buch, rechts vom Bild „Hilf mit!“

„Siehst du das rote Pulver hier?“ und beim Schlag: „Da hast du `ne Ladung!“ Oder er rief: „Ich kneif dich in die Backe, du feige Memme!“ Dabei verdrehte er den Kindern zusätzlich das Backenfleisch. Darum war er bei allen Klassen äußerst unbeliebt. Die Jungen zitierte er öfter zum Strafvollzug nach vorne als die Mädchen. Uns regte das zu allerlei Streichen gegen ihn an. Er nahm schon mal im Musikunterricht seine Geige zur Hand und konnte ihr keinen einzigen Ton entlocken. Wir hatten den Geigenbogen vorher sorgfältig mit Butter bearbeitet. Auch die große Tafel wurde gelegentlich mit Öl vorbehandelt, sodass die Kreide unsichtbar blieb. Vor allem war Mümmelmanns Hut ein beliebtes Ziel unserer Aktionen. Wir klebten heimlich einen Kartonstreifen

unter das Schweißband, dann warteten wir gespannt darauf, wenn er danach griff und ihn aufsetzte. Wir jubelten innerlich, wenn für einen kurzen Moment der Hut ganz hoch auf seinem Kopf thronte. Das waren köstliche Momente in unserem Schülerleben. Später mussten wir auch im Schulgarten an der Sarresdorfer Straße arbeiten. Als Dünger erhielten wir von den Pferden der in Gerolstein stationierten Soldaten reichlich Mist geliefert. Den sollten wir einmal verteilen und unterspaten. Wir warteten bis L. endlich seinen Hut ablegte, und wie aus Versehen warfen wir ihn voll saftiger Pferdeäpfel. Solche Aktionen blieben nie ohne immer heftiger werdende Strafen. Weder die Schulleitung zeigte daran Interesse noch die Eltern, die wohl alle Ähnliches in ihrer

Schulzeit zu ertragen hatten. Beschwerte man sich daheim bei ihnen, hieß es, ihr habt dem Lehrer sicher genug Grund dafür gegeben. Unsere St. Anna-Schule wurde im Krieg öfter durch die Einquartierung von Soldaten zweckentfremdet. Entweder fiel der Unterricht ganz aus oder wir mussten nachmittags zur Rektoratschule. Zu unserem größten Bedauern mussten wir ab der vierten Klasse die St. Josef Schule besuchen. Trotzdem sie modern und größer war, wären wir lieber in unserer alten Schule geblieben und bei Frau Fisch, der Hausmeisterin. Die konnte zwar furchtbar streng drein-blicken, aber sie hatte für uns Kinder immer ein gutes Herz. Wenn es im Winter in der großen Pause Milch gab, machte sie uns diese in ihrer Küche auf dem Herd warm.

Sie konnte uns aber sehr böse ansehen, wenn wir mit den Fingern, den sich darauf abgesetzten Schmant in Form einer Haut entfernten und auf den Schulhof warfen. Einige mochten keine Milch. Die Hausmeisterin gab sie dann den ärmeren Kindern. Nach dem schweren Bombardement auf Gerolstein an Heiligabend 1944 fand man in den Trümmern der St. Anna-Schule unter den Toten auch Frau Fisch.

In den letzten zwei Kriegsjahren gab es für Jungen Werkunterricht. Durch die allgemeine Verknappung fehlten Handwerkszeug und Material, trotzdem zimmerten wir noch einige Flugzeugmodelle aus Sperrholz und Pappe zusammen. Da wir hier die Aufsicht leicht ablenken konnten, gab

es manchen Unfug. Auf einem hohen Werkzeugschrank stand ein großes dunkelbraunes Glasgefäß, gefüllt mit Cebion-Vitamintabletten, die waren süß und schmeckten so herrlich nach Zitrone. Jeder Schüler erhielt täglich eine dieser Tabletten. Da wir aber kaum Süßigkeiten bekamen, richteten sich jetzt unsere begehrlichen Blicke auf dieses Glas. Während einige gehörig Lärm machten, zielten andere mit allerlei Wurfgeschossen darauf, bis es herunterfiel und zerbrach. Die umherrollenden Tabletten sammelten flinke Finger in Windeseile auf. Weil kein Verursacher ermittelt werden konnte, blieb eine gehörige Strafe für alle nicht aus. Kurz darauf wurde Lehrer L. zur Wehrmacht eingezogen; er kehrte nicht

wieder. Nun übernahm Lehrer Diehl unsere 7. Klasse. Seine Schwerpunkte waren Deutsch und Geschichte. Die 7. und 8. Klasse fasste er im Deutschunterricht zusammen und studierte mit uns Sprechchöre ein. Sie hatten alle eine vorgegebene Richtung, Krieg wie auch nationalsozialistisches Gedankengut. Die Sprechchöre wurden öffentlich auch in Orten außerhalb Gerolsteins aufgeführt. Da die Besucher meistens dahin abkommandiert waren, war ihr Erfolg vorprogrammiert. Lehrer Diehl fand, dass ich ein besonderes Talent zum Deklamieren hätte, und so musste ich bei unseren Auftritten Gedichte vortragen. Einmal hörte sich mein Vater das im Linde-Saal an. Als ich ihn später daheim höchst in-

Klassentreffen auf der Kasselburg

teressiert fragte, wie ich denn gewesen sei und auf ein Lob hoffte, meinte er trocken, er habe da einen kleinen Jungen laut schreien gehört, aber verstanden habe er kein einziges Wort.

Wir Schüler hätten so gerne Fußball gespielt. Doch die Eltern beschwerten sich bei der Schulleitung, dass unser Schuhwerk, ohnehin voller Flicken, damit zu stark strapaziert werden könne. Nur einmal im Jahr bekam man einen Bezugschein für ein einziges Paar; wenn man überhaupt noch was bekam, war die Qualität schlecht. Fußballschuhe oder Trikots gab es ohnehin nicht. Im letzten Schuljahr wurde trotzdem noch eine Schulmannschaft mit den besten Spielern der drei oberen Klassen aufgestellt. Es machte uns richtig Spaß, gegen andere Schulmannschaften zu spielen. Die Mädchen turnten derweil mit den paar Geräten, die noch vorhanden waren, oder sie spielten Völkerball. Aber in den Schulpausen konnten sie uns Jungen mit ihrem Spiel „Petersiliensuppenkraut“ gehörig nerven. Sie zählten ein Mädchen aus, das in die Mitte eines Kreise kam und eine Braut darstellten sollte. Dabei gingen sie im Reigen um sie und sangen gemeinsam – und auch noch recht laut: „Peter-siliensuppenkraut wächst in unserem Garten, unsere xx ist die Braut, kann nicht länger warten….“

In dem folgenden Reim wurde dann sehr deutlich der Name eines Jungen aus unserer Klasse als Bräutigam ausgeru-

fen. Die Mädchen amüsierten sich köstlich und giggelten, wenn der genannte Junge rote Ohren bekam und von uns Mitschülern noch tüchtig gehänselt wurde. Lehrer Diehl gestaltete seinen Unterricht spannend und wirklichkeitsnah und ganz ohne Strenge. Dadurch machte das Lernen endlich Spaß, und wir lernten viel mehr. Bei ihm strengte ich mich gerne an, und der Erfolg davon war ein sehr gutes Abschlusszeugnis. Damit lief ich direkt runter zum Bahnhof, wo mein Vater beschäftigt war. Er belohnte mein gutes Zeugnis mit sage und schreibe fünf Reichsmark, damals ein kleines Vermögen für mich.

Unser erstes Klassentreffen fand nach dem Krieg auf der Löwenburg statt, wo Peter Horsch eine Gaststätte betrieb. Die Treffen wiederholten sich regelmäßig, sie wurden dankenswerter Weise immer wieder ganz vortrefflich von unserer lieben Mitschülerin Lissi Wangen organisiert, die selbst Lehrerin geworden war. Inzwischen haben sich die Reihen meiner jetzt achtzigjährigen ehemaligen Mitschüler erschreckend gelichtet. Die wenigen, die noch übrig geblieben sind, möchte ich auf diesem Wege mit diesen Erinnerungen an unsere gemeinsame Schulzeit herzlich grüßen.