Die Luft schmeckt gut

Dr. Hubert Reuter, Düsseldorf

Es gibt Anlässe, die man nicht vergisst, weil sie eine besondere Erkenntnis vermittelten, die einem in ihrer Bedeutung erst später bewusst wurden. Davon soll hier berichtet werden.

Es war in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Wir erwarteten den Besuch meiner Tante. Ich durfte sie am Bahnhof abholen. Das, was man heute mit guter Infrastruktur bezeichnet, gab es damals noch nicht. Der Bahnhof war weit entfernt, es gab keine regelmäßige Busverbindung, Privatautos waren nur vereinzelt vorhanden und die nächste Taxistation befand sich noch weiter entfernt als der Bahnhof. Das wichtigste Verkehrmittel war neben dem Pferdegespann das Fahrrad. Die Tante kam aus Köln. Sie wollte ihre Verwandten in der Eifel besuchen, wo sie geboren wurde. Sie war damals eine von Vielen, die ihr berufliches Fortkommen in der Stadt finden mussten. Es gefiel ihr gut in Köln, doch sie hing mit ganzem Herzen an ihrer Heimat, der Hocheifel. Unser Weg, der eine gute Stunde zu Fuß in Anspruch nahm, führte uns in seiner schönsten Strecke durch ein

stilles Bachtal und durch einen lichten Mischwald. Mitten im Wald blieb die Tante stehen, lauschte und genoss die Stille; dann sog sie die Waldluft tief ein und sagte: „Die Luft schmeckt herrlich!“ Etwas überrascht entgegnete ich: „Tante, Luft schmeckt doch nicht.“

„Oh doch“ erwiderte sie, „die Luft hier schmeckt richtig gut“.

Sie versuchte mir zu erklären, dass die Eifelluft tatsachlich einen Geschmack habe und sich von der Luft in Köln wesentlich unterscheide: das sei nicht nur eine Frage des Geruchs und hänge nicht mit ihrer Liebe zur Eifel-heimat zusammen, sondern sei, wenngleich (damals noch) nicht messbar, doch spür- und erlebbar. Meine mangelnde Erfahrung und vor allem die fehlende Vergleichbarkeit machten es mir damals schwer, das zu verstehen. Ich wusste zwar, dass Luft einen Geruch annehmen konnte, zum Beispiel, wenn im Frühjahr die Jauchegruben geleert wurden, aber, dass Luft auch einen Geschmack haben konnte, überstieg damals mein Vorstellungsvermögen. Als wir zu Hause ankamen,

bat die Tante nach der herzlichen Begrüßung um ein Glas Wasser aus der dörflichen Wasserleitung, die von einer ergiebigen Quelle oben am Rand eines Waldes gespeist wurde.

Jetzt hörte ich die Tante, den Geschmack und die Klarheit des Wassers loben, wie frisch, wie mild und, vor allem, wie natürlich es schmeckte. Wieder machte ich mir Gedanken darüber, weil ich meinte, Wasser schmecke eben nach Wasser, so wie Wasser halt schmeckt.

Später, als ich den Geschmack von Wasser anderer Regionen kennen und unterscheiden gelernt hatte, erfuhr ich auch, dass man Luft schmecken und dieser Geschmack unterschiedlich sein kann. Jedes Mal, wenn ich nach kurzer oder längerer Abwesenheit in die Hocheifel zurückkehrte, Wasser aus der Leitung trank und den Wald durchstreifte, verstand ich, was meine Tante damals meinte und wie Recht sie hatte.

Eifel-Luft und Eifel-Wasser haben auch heute noch ihre Qualität und werden - wenn man darauf achtet - ihren unvergleichbaren „Geschmack“ behalten.