Auch Männer können weinen

Als in Bodenbach das Christkind zu uns kam

Helene Dümmer, Hillesheim

Unser Vater, ein Kolonialwaren-Großhändler aus Lissendorf, wurde während des Krieges „unabkömmlich“ gestellt mit der Auflage, die Eifeler Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln zu versorgen. In der Praxis bedeutete das, die Waren in einem staatlichen Depot in Neuwied abzuholen, um sie vom Stammlager Lissendorf aus kurzfristig zu verteilen. Zu diesem Zwecke stellte man ihm einen Holzvergaser mit Chauffeuse zur Verfügung, später war es ein Pferde-Fuhrwerk. Mit zunehmendem Bombardement der Alliierten erwies sich der Standort Lissendorf, unmittelbar an der strategisch wichtigen Bahnstrecke KölnTrier, als zu gefährdet. Darum legte Vater ein Notlager im Eifeldorf Bodenbach/ Kelberg an und führte von da an die Transporte größtenteils nachts durch.

Im Spätsommer 1944 mieteten unsere Eltern in Bodenbach noch einen Tanzsaal hinzu, unterteilten diesen mit einigen Bretterwänden, und unsere Großfamilie aus elf Personen zog bald dahin um. Der einzige Zugang zu unserer neuen „Wohnung“ führte durch die Gaststube, deren Besitzer Gastwirt, Posthalter

und Landwirt in einer Person war. In seiner Gaststätte gewährte er auch den Soldaten einen gemütlichen Aufenthalt am großen Bollerofen. Der alltägliche Umgang mit ihnen war für uns sechs Kinder völlig normal.

Dann nahte das Weihnachtsfest, und wir Mädchen registrierten freudig, dass das Christkind unsere Puppenwagen entführt hatte, auch schien es nachts in unserer Küche zu backen, denn wir nahmen den köstlichen Plätzchenduft wahr, wagten aber nicht, nach dem Gebäck zu fragen, hofften jedoch, das Christkind würde uns damit beschenken.

Am späten Vormittag des Heiligenabends kehrte unsere Mutter aus dem Adenauer Krankenhaus mit unserem neugeborenen Schwesterchen Luzia heim. Darüber gerieten wir Kinder derart in Hochstimmung, dass wir völlig überhörten, dass unsere Eltern mit Luzia auf dem Heimweg von „Jabos“ attackiert worden waren.

Den Namen Luzia hatten die Eltern mit Bedacht gewählt, denn in der harten Kriegszeit sehnte man sich doch nach Licht und Frieden. Als es anfing zu dunkeln und

die großen Saalfenster zugehängt waren, zündete Vater die Kerzen am Tannenbaum an, diese waren der einzige Weihnachtsschmuck in dem Jahr. Dann öffnete sich die Tür zur Gaststube und im Türrahmen stand das leibhaftige Christkind. Keiner von uns hatte es je zuvor gesehen. In ein langes weißes Gewand gehüllt, Kopf und Gesicht mit einem Schleier bedeckt, schritt es in unsere Mitte. Begleitet wurde es von zwei ebenfalls weiß gekleideten Engeln und hinter diesen strömte eine Schar Soldaten in unseren Raum, sie nahmen Platz auf den zwei langen Stufen, die Gaststätte und Tanzsaal miteinander verbanden.

Zutiefst ergriffen von soviel Schönheit und mäuschenstill blickten wir Geschwister vorsichtig auf zum Christkind. Einen solch schönen Brauch kannten wir in unserem Heimatdorf nicht. Erst als Mutter ganz leise das Lied „Alle Jahre wieder“ anstimmte, löste sich die Spannung. Das Christkind sprach uns Kinder mit unseren Namen an. Wir trugen ihm voll Inbrunst all jene Weihnachtsverse- und Lieder vor, die wir seit Wochen geübt hatten. Danach überreichten

die Engel jedem von uns einen kleinen Teller, auf dem ein Apfel und hausgemachtes Spritzgebäck lagen. Auch die Soldaten wurden so beschert. Darauf stimmten sie gemeinsam mit uns das Lied an „Stille Nacht, Heilige Nacht!“ Nachdem die Eltern das Christkind hinausgeleitet halten, blieben die Soldaten noch lange, wie uns die Eltern

Fallobst

Ingeborg Freisinger,

Ein dumpfer Aufprall: Der Apfel hatte sich vom Baum gelöst und war mir vor die Füße gefallen. Ins Gras. Deshalb blieb er ganz. Ich hob ihn auf und roch daran: Welch ein Duft! Er versetzte mich in die Zeit meiner Kindheit... So hatten die Äpfel geduftet, die wir mit unserer Oma sammelten, zur Fallobstzeit in Ürzig an der Mosel. Wir gingen über die Wiesen mit den vielen Apfelbäumen, beladen mit köstlicher Last. Oma trug die große Tasche, in die wir die duftenden Äpfel sorgfältig legten. Ob wir die einzigen Fallobstsammler waren? Ob damals eine allgemeine Erlaubnis zum Sammeln bestand oder ob es eine Absprache zwischen meiner Großmutter und den Besitzern der Streuobstwiesen gab weiß ich nicht. Es ist nur dieses Bild: Viele Bäume auf der Wiese, gelbe und rote Äpfel im Gras, in Omas Tasche und in meiner Schürze; meine Oma, die dunkel gekleidete

später erzählten. Erst nach dem Auszug des Christkindes bemerkten wir Mädchen, dass unsere Puppenwagen unter dem Tannenbaum standen! Vor freudiger Überraschung waren wir nicht mehr zu bändigen: Die kleinen Wagen waren frisch lackiert, die Kissenbezüge waren ganz neu wie auch die bunten Strickkleidchen unserer Puppen.

Überglücklich nahm ich die Fünfjährige, mein Püppchen aus dem Wagen und lief, es stolz hochhaltend, zu den Soldaten, um ihnen mein wundervolles Christkind-Geschenk zu zeigen. Dann hielt ich irritiert inne, denn ich sah einige Männer weinen. Als wohlbehütetes Kind hatte ich angenommen, Männer könnten nicht weinen!