Heimat und Literatur

Eine Begegnung mit Peter Zirbes

Ute Bales, Freiburg

An seinem Hausiererkarren mit dem vorgespannten Esel glaubte ich, ihn erkannt zu haben. Der Karren, ein gutes Stück auf dem Weg vor mir, schaukelte und schwankte. Der Mann, der neben dem Gefährt ging, den Esel am Strick, hatte eine Mütze tief ins Gesicht gezogen. Seine Schritte waren kurz, schlurfend. Beide, Mann und Esel waren alt. Auf dem Karren standen Körbe und Kisten nebeneinander, gefüllt mit glasierten Steinguttöpfen und Porzellan, dazwischen Stroh. Die Räder des Wagens, mit Eisen beschlagen, furchten den morastigen Weg. Jetzt blieb der Mann stehen, hob die Hand über die Augen, wohl um nach den Vögeln zu sehen, deren Geschrei im kalten Licht hing. Haolegäns waren es, auf dem Weg nach Nordosten, laute Himmelsketten zwischen faserigen Wolken. Dann ging er weiter, die Hände im Ärmel vergraben. Er fror. Die spärliche Sonne wärmte nicht, verwandelte aber den letzten Schnee in Wasser, weichte die Erde. Ich hatte ihn bald eingeholt. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Vor mir ging Peter Zirbes, der allererste Eifeldichter. Achtzehnhunder-tirgendwas in Niederkail geboren ging es mir durch den Kopf und ich konnte kaum fassen, ihm wirklich zu begegnen. Unsicher verlangsamte ich den Schritt, blieb noch eine Weile hinter ihm, dann aber siegte die Neugier. Ich grüßte und als ich zu fragen wagte: "Ihr seid doch Peter Zirbes?", sah ich in ein erstauntes Gesicht. Er blieb stehen. Wache graue Augen trafen meine, ein eindringlicher Blick aus einem faltigen, bärtigen Gesicht. "Kennen wir uns?" Er sah genau so aus wie auf dem Photo, das ich in seinem Haus in Niederkail gesehen hatte. Ich brauchte einen Moment, suchte nach einer Antwort. Zu seltsam war es, ihm wirklich gegenüber zu stehen. "Ich kenn Euch, aber Ihr kennt mich net. Dat wär auch net möglich, denn ich bin viel später geboren als Ihr. 1961. Und jetzt isset schon 2010." "2010?" Er blinzelte gegen das Licht. Trotz der Kälte trug er die blaue Eifeltracht aus Leinen. Seine Füße steckten in merkwürdig geflickten Schuhen, die abgetragen und löchrig waren. Die Jahreszahl schien ihn nicht weiter zu beunruhigen, denn er war auf anderes aufmerksam geworden. Er musterte die Jeans, die ich trug. "Müsst Ihr Euch verstecken?" fragte er und ich verkniff mir das Lachen, als ich den Grund seiner Frage ahnte. "Zu Eurer Zeit war dat wohl net Usus. Aber heut ziehn all Frauen Hosen an." Er schüttelte den Kopf, tippte sich an die Stirn. "So wat!" Er nahm mich genauer in Augenschein, beäugte die festen, stabilen Stiefel, die warmen Handschuhe, die Jacke aus Goretex, regenabweisend und atmungsaktiv, mit modischen Verschlüssen. Wie musste ich ihm wohl vorkommen? Offenbar kam er zu dem Ergebnis, dass ich merkwürdig aussähe, denn mit Blick auf meine Jacke murmelte er: "Et is kein Leder, auch kein Wolle. Leinen isset auch net." "Damit wärt Ihr früher gut dran gewesen", sagte ich, "da geht nix durch, kein Regen, kein Schnee, kein Kält." Er dachte nach, konnte offenbar mit meiner Antwort wenig anfangen. "Woher kennt Ihr mich?", wollte er wissen. "Ich kenn Euer Gedichte. Auch die Sagen." Zweifelnd war sein Blick, als ich erzählte, dass es immer wieder Liederabende zur Erinnerung an ihn gäbe, dass viel über ihn geschrieben worden sei. "Über mich? Früher hat keiner wat von mir wissen wollen. Un 2010 kennt mich noch einer?" "Einer? Viele. Net nur in Niederkail. Auch in Wittlich, im Trierer Land, in der ganzen Eifel. Ihr seid der erste Eifeldichter, zumindest der erste bekannte." Ich sah, wie er sich das Seil fester um die blaugefrorenen Hände wickelte und fuhr fort: "En Schul is nach Euch benannt, auch en Straß.

Euer Wohnhaus is heut en Museum. Die Niederkailer sind stolz drauf." Als ich anfing eines seiner Gedichte herzusagen und hinzufügte, es in der Schule gelernt zu haben, ging ein erstes Lächeln über sein Gesicht. "Opp Chreesdaach morjen woar et kalt und knüppelhart gefrorre ... Dat hab ich 1860 geschrieben. Vorher hat Oertel mir geholfen, en Gedichtband rauszubringen." Er grübelte über etwas, denn er hob die Hand, legte die Finger an die Stirn. "Jedes Jahr fahr ich auf Gertrudis mit dem Porzellan. Hab Hefte in meiner Tasch. Und wenn ich auf Hubertus zurückkomm, sind die Hefte vollgeschrieben." "Ich weiß", antwortete ich und es freute mich ihm mitzuteilen, dass seine Bücher inzwischen gesucht seien, besonders die alten Ausgaben und sich in vielen Bibliotheken fänden. Ich erzählte, was ich sonst noch über ihn wusste. Auch die Geschichte mit dem Dorfpfarrer erwähnte ich. Sein Gesicht wirkte angestrengt. Schließlich erkundigte er sich nach einer Frau aus seinem Dorf. Es sei viel Zeit vergangen, seit er sie das letzte Mal gesehen habe. Darüber konnte ich ihm nichts sagen, was ihn traurig stimmte. Ich versicherte, dass es ihr sicherlich gut gehe, dass sich seit dem letzten Jahrhundert viel geändert habe, dass es allen Niederkailern gut gehe, auch allen Eifelern, dass niemand mehr Hunger leide und die Leute jetzt andere Sorgen hätten. Auf Letzteres reagierte er nicht. Es gefiel ihm zu hören, dass jedes Kind in die Schule gehen könnte, je nach Neigung und Talent gefördert würde. Dass sogar viele studieren könnten und dass es etliche Eifeler gäbe, die es zu besten Positionen gebracht hatten. "Aber sicher nur der Adel?" Ich berichtete, dass es mit dem Adel gänzlich vorbei sei, dass es aber noch furchtbare Auseinandersetzungen und unzählige Tote deswegen gegeben habe. Auch die Weltkriege ließ

ich nicht aus. "Aber jetzt leben wir in einem demokratischen Land, wo jeder wählen darf, Frauen den Männern gleichgestellt sind, wenngleich sie immer noch weniger Geld verdienen. Die 48er Revolution war net umsonst." Er erkundigte er sich nach den rheinischen Dichtern, die er gekannt und gelesen hatte. Ich zählte Heine, Lenau, Büchner und Brentano auf, worüber er sich freute und sagte: "Sie waren so wichtig." Ich berichtete auch hier was ich wusste, dass ich erst kürzlich Caroline von Günderrodes wegen Winkel am Rhein besucht hatte. Dann kamen wir auf technische Neuerungen zu sprechen wie Strom, Telefon und sonstige elektronische Erfindungen. Es wunderte ihn zu hören, dass die Niederkailer, wenn heute überhaupt noch, dann mit Lastkraftwagen loszögen, dass der Handel damit leichter und schneller vonstatten ginge, dass sogar das Fliegen längst üblich zu nennen sei. Dazu fiel ihm die Eisenbahn ein und er warf ein, dass er das schon geahnt hatte. Das neue Europa interessierte ihn nicht, ich sah es ihm an, zu schnell hatte mein Bericht von den preußischen Provinzen die er kannte, den Bogen geschlagen. Wie es aber sei, dass niemand mehr auswandern müsse und alle medizinisch versorgt seien, wollte er genauer wissen. Wir waren inzwischen ein Stück gegangen, schweigend hatte er mir zugehört. "Dann geht et Euch ja allen gut", meinte er. Sein Blick allerdings blieb skeptisch. Ich nickte und wollte ergänzen, dass es Armut sehr wohl gäbe und wie sie heute aussähe, aber während er dem Esel eine löchrige Decke über den Rücken warf, fiel er mir ins Wort: "Dann is dat jetzt also net mehr dat preußische Sibirien ..." "Nee, davon will heut keiner mehr wat hören." Meine Antwort war ungeschickt, denn ich hatte anschließend alle Mühe damit, ihm zu versichern, dass nichts davon vergessen sei,

dass allerdings die Jugend nach vorne blicke, wohl auch müsse, und sich vieles gar nicht mehr vorstellen könne. Auch dass die Zeit genauso unwiederbringlich wie schnelllebig sei und Vergangenes nur schwer ins Bewusstsein drängen könne, wenn es nicht erlebt worden wäre. "Man kann den Leuten net verdenken, wenn ..." "Ja, ja", unterbrach er mich, "man kann den Leuten nie wat verdenken. Jeder lebt so, wie er zu denken gelernt hat. Wenn et nur allen besser geht..." Ich weiß nicht, warum mir in diesem Moment all die Obdachlosen, die Alkoholiker, die Drogenopfer, die Durch-das-Raster-Gefallenen, die Gewalttätigen, die psychisch Kranken, die Gehetzten und die vielen Einsamen einfielen. Jedenfalls sagte ich ihm davon nichts.

Wir gingen noch ein Stück zusammen und am Ende gab er mir seine Hand, nicht ohne mich nochmals von Kopf bis Fuß zu mustern. "Und dat is wirklich all wahr?" Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er mich zurück, zog den Kopf des Esels zu sich heran und murmelte: "So wat. En Frau, die mich und mein Gedichte kennt. Und in Botzen geht! Wat die all verzählt hat. Dat man in 3 Stunden bis Meisenheim kommt und in 8 nach New York! Dat man sich jeden Tag satt essen und sich dat Essen sogar noch aussuchen kann! Dat der Kaiser weg ist und jetzt jeder wählen kann. Dat jeder in die Schul gehen kann. Und Frauen sollen genauso gestellt sein wie die Männer! Dat wär aber ... , dat wär ja ... "

Den Rest konnte ich nicht mehr verstehen. "Ja, dat is wirklich all wahr!", rief ich ihm hinterher. Unter dem Geschrei der Haolegäns wurde er mit seinem Karren kleiner und kleiner, schließlich zu einem Punkt, der zwischen Himmel und Erde verschmolz.