Das vergessene Grab

Hildegard Kohnen, Brühl

Es war der Tag vor Allerheiligen. Ein Freund hatte zum runden Geburtstag eingeladen. Das abwechslungsreiche Programm begann mit der Führung durch eine Glockengießerei mit anschließender Kaffee- und Kuchenschlacht in der Glockenstube. Am späten Nachmittag brachte ein Bus die Gäste zur Weinfelder Kapelle, wo weltliche Lieder erklingen sollten. Ein wunderbares Geschenk des Heimat-Kirchenchores an das Geburtstagskind. Das Weinfelder Maar tief unten, und die kleine Kapelle hoch oben, wirken zu jeder Tages- und Jahreszeit anders auf seine Betrachter. Von dunkel bis hell, von lieblich bis düster, immer einmalig und so, dass man lange verweilen möchte. Eine solche Naturschönheit schlägt jeden in seinen Bann. Die Kapelle gehört zu den ältesten christlichen Kirchen der Eifel. Auf einem Eckstein ist bekundet, dass die erste Kirche schon im sechsten Jahrhundert erbaut wurde. Dass der Friedhof um das Kirchlein herum dem Maar seinen Namen "Totenmaar" gab, lernten wir bereits in der Schule. Dass es von Sagen und Legenden dicht umwoben ist, wie alle Eifel Maare, auch. Es war dämmerig, als wir ankamen. Auf dem Friedhof herrschte ein reges Leben. Die meisten Gräber bereits für Allerheiligen hergerichtet, sah man noch vereinzelt Menschen, die letzte Hand anlegten, harkten und pflanzten, damit sich die Gräber im Glanz der Novembersonne im schönsten Schmuck präsentieren konnten. Auf den meisten Gräbern brannten schon rote Lichter. Es wirkte im Abendlicht fast gespenstig. Im Vorbeigehen entdeckte ich links vom Eingang ein Grab, verwildert, ohne jeden Schmuck mit einem verwitterten Holzkreuz. Betroffen blieb ich stehen. Ein Grab, inmitten der anderen geschmückten Ruhestätten vergessen? Nahm keiner der emsig arbeitenden Besucher dieses Grab wahr? Hatte ein'Fremder oder ein Dorfbewohner hier seine letzte Bleibe gefunden. War er "nur" vergessen worden oder gab es keine Angehörigen mehr? Fragen über Fragen, stellten sich mir. Natürlich ging es mich nichts an, aber dennoch geriet ich ins Grübeln. Mich fröstelte, obwohl mir nicht kalt war. Nachdenklich folgte ich den anderen Gästen in die Kirche. Ich hörte zu Herzen gehende Lieder des Mehrener Kirchenchores und hörte sie nicht. Schaute mich in der Kapelle um und nahm nichts wahr. Sah die Widmungen auf den zahlreichen Danktafeln - und sah sie nicht. Ich las - Maria hat geholfen.

Dieser vergessenen Seele auch? Wie alle anderen ruht sie in der Nähe des neuen Friedenskreuzes, dachte ich. Doch es tröstete nicht. Im Gedicht eines Heimatdichters heißt es ... "Stille, Ehrfurcht, ein bescheidener Ort, immer und heute ein Zufluchtsort"...

Ich machte eine kleine Zeitreise - dachte dabei plötzlich an das kleine Mädchen, das vor Jahrzehnten abends mit dem Großvater zum Friedhof ging, wo unter der Trauerweide die Großmutter ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Während der Großvater in der Nahe des Grabes auf einer Bank stumme Zwiesprache mit seiner Frau hielt, lief das Kind über den Friedhof, zupfte hie und da von den "reichen" Gräbern, mal ein Stiefmütterchen, mal ein Vergissmeinnicht, mal ein Auferstehungsblümlein aus und pflanzte sie auf die "armen" Gräber, wie sie sie nannte. Der Großvater beobachtete seine Enkelin, sagte aber nichts. Später sagte er zu seiner Tochter: "Sie hat wieder Schinderhannes gespielt". Erst später wusste ich, was das zu bedeuten hatte. Am Tag nach dem Fest, längst fern der Eifel, rief ich meine Kusine in Brockscheid an und erzählte ihr meine Beobachtungen auf dem Weinfelder Friedhof. Sie hörte still zu, machte nicht viele Worte, handelte, nahm sich des Grabes an und erfuhr, dass es auf dem Friedhof noch so ein vergessenes Grab gibt. Mutter und Sohn, ohne Angehörige, hatten dort ihre letzte Ruhestätte gefunden Spontan übernahm meine Kusine, ohne groß jemanden zu fragen, die Patenschaft für die beiden Gräber. Seitdem kümmert sie sich rührend um ihre Patengräber.