Wenn ich dich nicht hätte!

Marianne Schönberg, Feusdorf

Diese Laudatio hat sie verdient - meine Brille. Was wäre ich ohne diese Sehhilfe? Ein arg eingeschränkter Zeitgenosse. Keine Tageszeitung könnte ich lesen, kein Buch, keinen Fahrplan, keine Liedstrophe. Gebrauchsanweisungen oder Rezepte blieben mir ein Geheimnis, die Schalter am Herd, der Wasch - oder Spülmaschine könnte ich nur nach Gefühl bedienen, Fehlleistungen wären vorprogrammiert.

Meine Großmutter hatte keine Brille, sie konnte kaum ihren Namen richtig schreiben, Informationen durch eine Zeitung blieben unmöglich.

Meine Mutter musste ihre erste Brille noch selbst zahlen, dafür kam keine Krankenkasse auf. Sie trug diese Sehhilfe lange, zu lang, aber an einen Neukauf war nach Kriegsende nicht zu denken. Dann dies - es war Sommer und Salat stand auf dem Speisezettel. Einmal hatte er etwas Sand in der Soße, ich war jung, rügte das und Mutter meinte, ich sehe es eben nicht mehr richtig, das machte mich traurig. Auch zu der Zeit kein Geld für eine neue Brille, die Grundbedürfnisse am Tag hatten Vorrang.

Wenig später gab's die Doppelfenster fürs Auge über die Kassen. Einfache Gläser waren das, entweder für nah oder fern und mein Vater hatte beide nötig.

Was geschah mit Mutters alter Brille? Vater meinte, sie sei überaus wichtig, er brauche sie ab und an um die beiden andern zu suchen.

Und ich?

Als Geschenk empfinde ich meine Gläser im Gestell, das darf auch noch ausgesucht werden und wenn's denn was Besonderes sein soll -beinahe alles ist möglich.

Oft denk ich an Oma und ihre Einsamkeit, weil sie nicht mehr lesen konnte, an Mutter, die in der täglichen Arbeit nicht alles genau sah. Sie wusste das und es tat ihr weh.

Nun, viel später hab ich das begriffen, hab's erfahren; danke.

Wenn ich dich nicht hätte, meine Brille!