Aus- und Zuwanderung

Rauswurf aus der Heimat

Als Flüchtling eine neue Bleibe gefunden

Gisela Scharner, Daun

Meine Eltern heirateten 1934 und übernahmen in Schwerin/Warthe ein Kolonialwarengeschäft und eine Gaststätte. Im Mai 1935 wurde der erste Sohn geboren. Zu jenem Zeitpunkt war wenige Wochen vorher durch die Naziregierung die durch den Versailler Vertrag untersagte allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt worden. Als im November 1936 meine Schwester geboren wurde, marschierten wieder deutsche Soldaten in das entmilitarisierte Rheinland ein - wieder wurden die Versailler Beschlüsse durch Hitler gebrochen. In meinem Geburtsjahr 1938 erfolgte der "Anschluss" Österreichs und Hitler ließ sich in Wien von hunderttausend Menschen bejubeln..

Im kommenden Jahr begann am 1.9.1939 der Polenfeldzug und mein Vater wurde sofort zu Kriegsdiensten eingezogen. Im Geburtsjahr meiner jüngsten Schwester, 1940, verbündete sich Nazi-Deutschland mit Italien und Japan im Dreimächtepakt, mit dem Ziel, neben der militärischen Zusammenarbeit auch die Aufteilung der Welt in drei Interessensgebiete zu sichern. Während des Krieges war unsere Mutter nun allein mit uns Kindern und hatte neben der Erziehung noch zwei verantwortungsvolle Aufgabenbereiche zu bewältigen, zum einen ein Kolonialwarengeschäft zu leiten und daneben auch noch die Gaststätte "Zum großen Kurfürsten" zu führen. Sie meisterte ihre Sache gut, trotz aller Widrigkeiten, die der Krieg, die Luftangriffe und die vorrückenden Russen mit sich brachten. Es war für sie nicht nur sehr anstrengend, bis tief in die Nacht die in Schwerin stationierten Soldaten zu bewir-

ten, sondern es erforderte auch hohe Organisationsfähigkeit, das Kolonialwarengeschäft zu organisieren, wenn die Waren infolge des Krieges immer knapper wurden und strenge Rationalisierungsmaßnahmen erforderten. Und dann kam das Jahr 1945. Seit Tagen sprach man von "Räumung, Heimat verlassen, Flucht!" Doch keiner wusste etwas Genaueres. Jeder hoffte, dies würde nie eintreten. Doch dann die Anordnung des Bürgermeisters: Fertig machen zur Flucht! Alle, auch unsere Familie - die Großmutter, unsere Mutter mit ihren vier unmündigen Kindern -, mussten am 27. Januar 1945 Schwerin verlassen. Es galt, den vorrückenden Russen zu entfliehen, die bereits auf dem Weg nach Schwerin waren. Wegen der Gefahr eines feindlichen Beschusses sollten wir nachts fahren. Auf dem Bahnhof stand ein Zug unter Dampf. Der Marktplatz lag im Dunkeln, an den Ecken standen deutsche Panzer, die Poststraße wirkte wie ausgestorben. Geschützdonner in der Ferne. Eine Prozession von Menschen mit Koffern beladen setzte sich zum Bahnhof in Bewegung. Von ferne Kanonendonner. Leuchtraketen am Himmel. Wir landeten in einem alten 4. Klasse-Abteil mit vielen anderen Flüchtlingen.

Stundenlang saßen wir bei klirrender Kälte in dem ungeheizten Waggon mit seinen eingeschlagenen Fenstern. Alle waren nervös, zerfressen vor Angst: "Wir müssen fahren, sonst werden die Warthebrücken in Landsberg und die Oderbrücken in Küstrin gesprengt!" Endlich setzte sich der Zug in Bewegung und fuhr in Richtung Pommern. All dies geschah in letzter Minute. Schon wurden die hinteren Waggons beschossen. Als wir den Schweriner Forst verließen, blieb unsere Heimat zurück,

flache, weiß verschneite Wiesen, so als wäre alles mit einem weißen Leichentuch bedeckt. Alle Heimatvertrieben hatten Tränen in den Augen. Und alle trugen die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in ihren Herzen.

Rabotti, rabotti

Unsere Familie blieb einen Monat bei einer entfernt verwandten Tante in Viereck im Osten Vorpommerns, danach ein Jahr lang in Teetz im Landkreis Ostprignitz in Brandenburg, das gänzlich unter russischer Herrschaft und Verwaltung stand. Es waren Monate voller Angst und Sorgen. Wir bekamen ein kleines Häuschen zugewiesen mit zwei Zimmern für sieben Personen. Doch was arbeiten? Wovon leben? Wir Kinder wurden mit Lebensmittelkarten zu den Zuteilungsstellen geschickt, um ein Stück Brot oder sonstige Nahrung zu bekommen. Oft mussten wir zu den Bauern betteln gehen, eine peinliche und unangenehme Lage für uns Kinder. Manche haben uns noch nicht mal die Türe geöffnet, andere gaben uns ranzige Butter oder schlechten Speck. Wieder andere waren christlicher, mitleidvoller und hilfsbereiter. Mein Bruder und meine kleine Schwester gingen morgens zu einem Bauern in der Nähe, um dort etwas Milchsuppe essen zu dürfen. Monatelang war nur unsere Großmutter als ständige Betreuungsperson für uns Kinder da, denn unsere Mutter und Kusine mussten sich oft verstecken, um sich so vor russischen Übergriffen und Vergewaltigungen zu schützen. Tagelang sahen wir sie nicht und wussten oft nicht, ob sie noch am Leben waren. Irgendwo im Freien, in Scheunen oder anderen Verstecken hausten sie. Irgendwann wollten Mutter und die Kusine wieder einmal in einem Bett schlafen. Doch genau in dieser Nacht überfielen uns die Russen. Die Fensterscheiben klirrten. Unsere Oma wurde mit einem Gewehrkolben niedergeschlagen und lag besinnungslos auf dem Boden. Zwei Russen standen vor den Betten, richteten die Gewehre auf Mutter und die Kusine und riefen: "Mitkommen - dawai dawei rabotti, rabotti - los los arbeiten!" Wir Kin-

der schrieen aus Leibeskräften und so voller Angst, dass sie unsere Mutter zum Glück in Ruhe ließen. Die Kusine versuchte noch, sich mit einem Besen zu wehren, denn sie wusste, was die Russen unter "rabotti" verstanden und sprang kurzentschlossen aus dem Fenster. Die Russen stürmten ihr nach. Wir Kinder hörten noch Schüsse fallen und glaubten nicht mehr, sie lebend wieder zu sehen. Etliche Tage später kehrte sie erschöpft und verwahrlost zu uns zurück. Draußen im Freien hatte die Resolute sich versteckt und war den Russen unverletzt entkommen. Kurze Zeit später bezog eine Kommandantur Wohnung im Ort, und diese schrecklichen Übergriffe ließen nach.

Plünderungen, Hunger, Unterernährung, Krankheiten waren an der Tagesordnung. An diese Zeit habe ich kaum mehr schöne Erinnerungen, außer einer: Der Bürgermeister des Ortes fuhr mit uns Kindern mit einem Pferdewagen aufs Feld. Dort stand ein Maulbeerbaum. Und wie es der Bürgermeister angestellt hat, wird mir ein Geheimnis bleiben, auf jeden Fall gelang es ihm, dass von diesem Baum frisch gebrannte Karamellbonbons herunterfielen, die wir aufsammeln durften. Welch eine Freude und welch ein Erlebnis für uns Kinder.

Der Westen ruft

Mutter hielt es im Osten nicht mehr aus. Sie versuchte nun, mit uns in den Westen zu flüchten. Sie trug ein kleines Köfferchen mit sich, das ihr an der Grenze sehr hilfreich war. Denn die kontrollierenden Grenzer "fanden" in ihm jede Menge Zigaretten - "Passierscheine" für uns und auch noch für andere Familien. Wir schlossen uns einem Treck an. Tagelang waren wir unterwegs, bis wir schließlich im Durchgangslager Friedland aufgenommen wurden, das nach dem Zweiten Weltkrieg für vertriebene Deutsche aus den ehemals deutschen Ostgebieten und dem Sudetenland errichtet worden war. Eine unüberschaubare Menge von Flüchtlingen war dort, die Rettung und Zuflucht suchten. Wir wurden in einer Baracke untergebracht, mit

einem Kanonenofen, mit Schlafplätzen auf dem Fußboden, mit einer dünnen Zudecke pro Person - und allen Krankheiten, die Barackenleben hergeben.

Tage später mussten wir erneut Lastwagen besteigen, die uns Flüchtlinge in die verschiedensten Orte und Städte verteilten. Wir fanden 1946 im niedersächsischen Ottenstein (Weserbergland) unsere nächste Bleibe. Es folgten Jahre harter Arbeit, Jahre der Armut, Jahre der Fremdheit, aber auch Jahre, in denen man Zuflucht, Zutrauen, Vertrauen und Hilfe fand. Vor allem wurde uns eine herzliche Aufnahme durch die Familie Keune-ke bereitet, die uns wie selbstverständlich in ihren Haushalt aufnahm. Und diese "Selbstverständlichkeit" ist umso höher zu werten, wenn man bedenkt, dass diesem kleinen Dorf Ottenstein mit damals rund tausend Einwohnern auch etwa tausend Heimatvertriebene zugewiesen worden waren. Es entstand eine tiefe Verbundenheit zu dieser Familie. Und die Freundschaft besteht bis heute. Nie ist der Kontakt abgebrochen und wird noch jedes Jahr mit gegenseitigen Besuchen liebevoll gepflegt und vertieft. Ottenstein war ein "rein protestantisches" Dorf. Durch die Flüchtlinge kamen nun in etwa gleicher Anzahl "rein katholische" in diese Diaspora. Dies brachte ungeahnte Schwierigkeiten mit sich. Denn nun kamen zu den persönlichen und wirtschaftlichen Nöten noch "Glaubenskriege zwischen Katholiken und Protestanten". Es kam zu Konkurrenzdenken, zu heftigen Streitereien und auch körperlichen Auseinandersetzungen, - aus heutiger Sicht kaum mehr nachvollziehbar. Es war zur Heuernte 1946, bei der unsere Familie den Bauern mithalf, als unser Vater nach seiner Entlassung aus russischer Gefangenschaft uns in Ottenstein wieder traf. Ein frohes Wiedersehen - das erste nach sieben Jahren!

Sieben Jahre blieben wir auch in Ottenstein, bei Familie Keuneke, die eine Landwirtschaft betrieb. Und in dieser arbeiteten unsere Eltern mit, um uns so ernähren zu können. Auch wir Kinder halfen mit, wo wir nur konnten, im Haushalt, beim Viehhüten, in der Feld- und

Stallarbeit, beim Kinderverwahren. Es war eine Zeit, die uns bis heute formte und prägte.

Wir passten uns an

Im Herbst 1953 verschlug es uns dann in die Eifel. Vaters Neffe, Willi Bretthauer, der in Daun bereits Fuß gefasst hatte, hatte dort eine Gaststätte, den "Pressluftkeller", zu verpachten. Und da unsere Eltern der Gastronomie kundig waren, schienen sie für ihn die geeigneten Pächter zu sein. Ein Jahr lang betrieben wir diese Gaststätte, die heute noch vielen in guter Erinnerung ist. Ich, damals fünfzehnjährig, wurde bereits zum Servieren angeleitet. Und jedes Mal, wenn die Polizei das Lokal betrat, um die Jugendschutzbestimmungen zu überprüfen, musste ich im hinteren Raum verschwinden. Sobald diese dann die Wirtschaft verlassen hatten, setzte ich meine Arbeit fort. Als dann die Rente und der Lastenausgleich für unseren Vater bewilligt waren, beendeten wir den Pachtbetrieb und mieteten in der Tiergartenstraße eine kleine Wohnung, die die Stadt Daun zur Verfügung stellte. Trotz der Beengtheit fanden hier alle Platz. Was aber wesentlich bedeutsamer war, wir wurden offenen Herzens in Daun angenommen. Die Bevölkerung, die selbst noch unter den Nachwehen des Krieges zu leiden hatte, nahm uns freundlich und hilfsbereit auf. Wir wurden rasch in die Straßengemeinschaft und in die Dauner Gesellschaft integriert. Wir haben uns auch gerne integrieren lassen. Anfangs trauerten unsere Eltern noch sehr der verlorenen Heimat nach, die wir auch jetzt noch regelmäßig aufsuchen. Doch dieses Heimweh wich immer mehr und machte der Gewissheit Raum, in Daun eine neue Heimat gefunden zu haben. Wir haben viel durchgemacht, viel gelitten, haben uns durchgekämpft. Wir haben Böses erlebt, aber auch Erfreuliches; mehr noch, wir durften erfahren, dass Menschen eng zusammenhalten und sich gegenseitig helfen, trotz - vielleicht aber auch wegen -eigener Anspruchslosigkeit. Dafür waren und sind wir heute noch - nach über sechs Jahrzehnten Vertreibung - dankbar.