Nur mit Gottes Hilfe

Margarethe Schönberger †, Gerolstein

(Margarethe Schönberger, bis zu ihrem Tod im Juni 2010 im Landkreis Vulkaneifel lebend, schildert stellvertretend für viele Helenendorfer und Russlanddeutsche, die Odyssee ihrer Vertreibung aus ihrer einstigen Heimat)

Es war Herbst. Die Astern blühten, Kühe und Pferde grasten am Dorfrand, Kinder spielten um die Gehöfte Verstecken und Blindekuh. Da schlug plötzlich am 15. Oktober 1941 die Hiobsbotschaft ein, wie eine Sprengbombe, mitten in unser friedliches großes deutsches Dorf Luxemburg. Es war nur ein Wort: Deportation! Diesem Schreckenswort folgten geschäftige Beamte mit eisigen Mienen und strikten Befehlen. Sie nannten das Wenige, das uns gestattet wurde, ins Unbekannte mitzunehmen. Zurücklassen mussten wir Haus und Hof, die Scheunen mit all unserem bereits eingebrachten reichen Wintervorrat, unsere Pferde, die Kühe und Kälber, die Schweine, Schafe und Hühner. Alles was wir besaßen, listeten die Offiziellen auf. Wir erhielten ein Blatt Papier und das mündliche Lügenversprechen: "Am neuen Ort bekommt ihr ja alles wieder". Als letztes wurden unsere Familienmitglieder aufgeschrieben, mit Namen, Geburtstag, Familienstand. Das Entsetzen füllte den Tag, machte die Nacht zur Hölle. Es dauerte drei Tage, bis die 12.000 Einwohner Luxemburgs auf Lastwagen zur nächsten Bahnlinie gebracht werden konnten. Unser Dorf, ursprünglich genannt Katharinenfeld, mitbegründet von meinen Vorfahren aus Württemberg, wurde nach der Oktober-Revolution, in Erinnerung an die deutsche Sozialdemokratin Rosa Luxemburg, in Luxemburg umbenannt. Es lag im Süd-Kaukasus, etwa 60 km westlich von Tbilisi (Tiflis), der Hauptstadt Georgiens. Tbilisi bedeutet soviel wie "warme Stadt", denn hier gab es viele schöne Kuranlagen, gespeist von seinen berühmten warmen Schwefelwasserquellen. Erst in den letzten Stunden vor dem Abtransport erreichte ich mein Elternhaus, da ich

in Kachetien (Westgeorgien) als Fremdsprachenlehrerin an einer Mittelschule angestellt war. Als ich bei strömendem Regen aus dem Führerhaus des Lasters stieg, wurde ich vom Rest der bereits vor dem Hoftor auf der Straße stehenden Familie empfangen. Das Gepäck lag auf der Straße. Meine Mutter, vier Enkelkinder mit ihren Müttern standen völlig durchnässt bereits Stunden in Erwartung einer Fahrmöglichkeit. Unter Tränen umarmte mich meine Mutter: "Gott der Allmächtige hat mein Gebet erhört! Ich bat ihn auf den Knien, er möge mir wenigstens eins meiner vier Kinder bringen. Nun bist Du da!"

Es war ein trostloses Bild. Überall standen vor ihren Gehöften die Familien im strömenden Regen, und nicht einmal die mit Säuglingen und kleinen Kindern durften zurück ins eigene Haus. Sämtliche Häuser waren verschlossen und amtlich versiegelt. Die Menschen warteten mit ihren weinenden Kindern, die das alles nicht begreifen konnten, bis zur Dunkelheit. Erst dann kamen die offenen Lastwagen. Fassungslos warfen wir einen allerletzten Blick zurück auf unsere Häuser, auf unser Dorf, wo wir all unseren Besitz, unser Vieh und auf dem Friedhof die Gräber unserer Verwandten und Freunde zurückließen. Wir hörten noch lange das Schreien unserer Tiere, erkannten das Bellen unserer Hunde.

Völlig durchnässt und durchfroren kamen wir auf einem hoch umzäunten Sammelplatz an. Unser Gepäck wurde in die Pfützen des aufgeweichten Bodens geworfen. Sollten wir etwa hier draußen die Nacht verbringen müssen? Wir Erwachsenen stellten Gepäckteile zusammen, legten die müden Kinder darauf und versuchten, sie wenigstens etwas abzudecken. Unser Beten war, dass der Regen endlich aufhören möge und der neue Morgen uns wenigstens Sonne schenken soll. Irgendwie gingen die kalten Nachtstunden vorbei. Die Morgensonne schien auf uns Heimatlose, auf die Habseligkeiten. Die Kinder

Margarethe Schönberger, 89 Jahre (vordere Reihe, vierte v.l.)

wachten auf. Wir waren alle hungrig, aber den Kleinen fehlte das gewohnte Frühstück am meisten. Es gab keine Möglichkeit sich zu waschen oder für andere Bedürfnisse. Wir standen Schlange, um eine Kanne heißen Wassers zu ergattern. Nun wärmte uns endlich eine Tasse heißen Tees. Dazu aßen wir etwas selbstgemachten Zwieback. Wir aßen ihn langsam, er war kaum herunterzuschlucken, so schnürte uns der Hals zu bei den Gedanken an eine ungewisse Zukunft.

Erst gegen Abend kam eine Lok herbei mit vielen Waggons. Das Tor des Sammelplatzes wurde entriegelt. Im Stockfinsteren gab es ein Rennen mit Sack und Pack, die Kinder zusammenhaltend durch den Matsch, über die Gleise zum Zug. Von Sitzplätzen darin konnte keine Rede sein. Die Fahrt dauerte die ganze Nacht über und den anderen Tag bis zum späten Nachmittag. Am Kaspischen Meer stiegen wir aus, todmüde, uns war elend zumute. Nach vielen Stunden des Wartens erschien ein altes, von Sturm und Wetter übel zugerichtetes Schiff. Dort hinauf sollten wir? Unsere Angst, die Bedenken, wurden mit dem Befehl: "Einsteigen!" weggewischt. In Gottes Namen denn.

Zögernd betraten wir mit den Kindern, den Alten und Kranken das Wrack. Dann erschien im Hafen eine weitere große Gruppe Menschen. Es waren wie wir auch Vertriebene, die Bewohner des deutschen Ortes Helenendorf in Aserbeidschan. Die Jugendlichen aus diesem Dorf und dem unsrigen kannten sich von ihren Sängerwettbewerben her oder von Dorffesten, auf denen sie sich getroffen hatten. In unsere Trauer, drangen auf einmal Töne. Die jungen Menschen, es waren an die hundert, hatten spontan einen Chor gebildet. Es erklangen mehrstimmig die Abschiedslieder: "Nun ade, du mein lieb Heimatland" und "Im schönsten Wiesengrunde", dann intonierten sie: "Droben stehet die Kapelle, schauet still ins Tal hinab".

Wem nicht vor lauter Leid das Herz ganz abgeschnürt war, wer noch Gewalt über die eigene Stimme hatte, sang spätestens mit beim Kirchenlied: "Befiehl Du Deine Wege". Viele nahmen jetzt ihr Gesangbuch aus dem Gepäck und sangen: "Wer nur den lieben Gott lässt walten!"

Ja, wir mussten den lieben Gott walten lassen, denn wir waren Spielbälle geworden, die die

Willkür hin und her warfen. So sangen wir, doch war es mehr ein Beten: "Gott, deine Güte reicht so weit wie die Wolken gehen". Später erfuhren wir, warum der Befehl zum Einsteigen und Weitertransport stets im Dunkeln kam. Es war, weil wir Menschen so plötzlich und völlig unverschuldet deportiert wurden. Uns sollte keine Gelegenheit zum Protest gegeben werden. Wir sollten nicht aufmucken. Alles sollte still gehen, darum kam der Befehl zur Weiterfahrt immer abends, wenn die Menschen erschöpft und die Kinder müde waren.

Die Hoffnung ist der wahre Stern

Die Helenendorfer begleiteten unsere Fahrt, die uns immer weiter entfernte von allem, was wir in vielen Generationen geschaffen hatten, mit ihren schönen Stimmen und dem Lied: "Die Hoffnung ist der wahre Stern auf weiten hohen Wellen". Diese Worte trafen genau auf unsere momentane Situation zu. Der Regen drängte bald die Menschen vom Deck nach unten. Plötzlich wurden die Männer aufgerufen, sich sofort in den unteren Schiffsraum zu begeben. Das Schiff hatte ein großes Leck. Alte Leute, die zum ersten Mal auf dem Meer waren beteten laut: "Herr hilf uns, sonst gehen wir zugrunde!"

Und es war wie ein Wunder. Es kam kein gefährlicher Wind auf, das Meer blieb glatt, während wir von West nach Ost die Kaspische See in einem defekten Schiff überquerten. Wider alle Befürchtungen erreichten wir sicher den Hafen Krasnowodsk.

Die Matrosen halfen uns beim Aussteigen. Als ich den Kapitän sah, bedankte ich mich bei ihm für die letztendlich doch geglückte Überfahrt. Seine Antwort war ungewöhnlich. Er meinte, das Gegenteil sei der Fall. Er müsse sich bei uns Deutschen bedanken, weil wir uns so besonnen verhalten hätten, trotz allem, das uns widerfuhr und trotz des gefährlichen Lecks. Besonders danke er aber für die wunderschönen Lieder, die ihn gestärkt hätten in der Gefahr. Die deutschen Worte habe er leider nicht verstehen können, wohl aber die Botschaft darin, dass es Gebete gewesen wären, die zum Himmel geschickt wurden, das habe er gefühlt. Am Steuer habe er die Kraft gespürt,

die von unserem Gottvertrauen auf ihn überging. Dann fügte er nach einer Pause hinzu, das Schiff sei schon seit Monaten als seeuntauglich abgeschrieben. Er sah mich bedeutungsvoll dabei an. Ich verstand, was er mit dem Ungesagten meinte. Dann fügte er hinzu: "Wissen Sie, ich wurde kommunistisch erzogen, aber heute, in der großen Gefahr, spürte ich, dass Gott da ist und seine Wege sind wunderbar." Wir Vertriebenen verbrachten einen schier endlosen Tag in brütender Hitze am heißen Sandstrand von Krasnowodsk - ohne einen einzigen Tropfen Trinkwasser. Unweit vom salzigen Meer beginnt hier die Sandwüste Kara-Kum (Schwarzer Sand), zu der sich unter der erbarmungslos brennenden Sonne später unser Zug langsam bewegte. Von dort fuhren wir zur nächsten Wüste, Kysil-Kum (Roter Sand). So durchkreuzten wir Turkmenistan, ein absolut ödes Land, bis hin zum Süden Kasachstans. Hier erst wurde die Landschaft freundlicher, und bei der Hauptstadt Alma-Ata (das heißt "Äpfel-Vater" auf kasachisch) gab es wieder Obstgärten, Berge und Wälder. Wir aber fuhren immer weiter nördlich. An einem Novembermorgen überraschte uns der Blick auf eine unendliche Schneesteppe. Aus der Wüstenhitze waren wir in Frost und Schnee geraten. Wir kamen bis zur Stadt Pawlawar (was soviel heißt wie St. Paul's-Geschenk), wo wir in den Waggons zehn eisige Tage am Ufer des großen sibirischen Flusses Irtysch verbrachten. Es gab keine Brücke. Das Eis war noch zu dünn und brüchig für ein Überqueren. Doch die Not der gänzlich unversorgten Menschen zwang schließlich unsere Bewacher zu einem riskanten Entschluss: Spätabends orderten sie eine Fähre herbei. Unter der Menschenlast brach und knirschte das Eis, die Fähre bewegte sich langsam zum anderen Ufer hin.

Am jenseitigen Ufer, schutzlos im Freien ausgesetzt bei 25° Frost, bedrängt von einem Schneesturm, hieß es die Nacht zu überleben. Niemand wagte es sich hinzusetzen, geschweige denn zu schlafen. Wir hielten uns in ständiger Bewegung die ganze Nacht über um nicht zu erfrieren. Am nächsten Tag kamen Schlitten und wir wurden in kleinen Gruppen

in alle Himmelsrichtungen verstreut, jede auf der Suche nach einer Bleibe. Es kam niemand, der fragte, ob wir überhaupt noch etwas zu essen hätten. Jetzt im Dezember war nichts mehr übrig von den im Oktober mitgenommenen Vorräten. Es hieß: "Hilf dir selbst!" Unsere beschwerliche Odyssee ins Ungewisse dauerte noch viele lange Wochen. Es ging immer weiter. Alle Siedlungen, die wir erreichten, waren bereits von Deutschen überfüllt. In Schulgebäuden oder Vereinsräumen mussten wir tagelang warten, bis es wieder eine Möglichkeit gab, so viele Menschen weiter zu transportieren. Nahezu jeden Morgen waren jetzt Tote zu beklagen. Wir waren mitten in dem uns nicht vertrauten sibirischen Winter, für den wir weder schüt-zende Kleidung besaßen noch die Kenntnisse, uns darin zurecht zu finden. Nachts drängte sich jeder in den voll gestopften Raum voll verbrauchter Luft. Schier unerträglich waren die dahin tropfenden Stunden der Nacht mit Stöhnen, Husten und kläglichem Kinderwimmern. Dazwischen wie eine Rettungsleiter zum Himmlischen das Gebet einer alten brüchigen Männerstimme: "Mach End, oh Herr, mach Ende, mit unserer

aller Not, stärke unsre Fuß' und Hände, lass bis in den Tod uns allezeit, deiner Pfleg' und Treu' befohlen sein!"

Nach wenigen Tagen starben dieser alte Mann und bald darauf seine Ehefrau. Sie lagen, auf dem schmutzigen harten Fußboden, mitten unter uns Eingepferchten. Es gab keine ärztliche Hilfe, keine sanitären Einrichtungen, keinerlei humanitäres Entgegenkommen. Gott der Herr allein war Zeuge unseres Leidens, des Sterbens so vieler. In all den Jahren unseres Elends, in der Verachtung, war er nah bei uns. Wir erreichten unseren Himmlischen Vater mit den alten Liedern und Gebeten in unserer deutschen Muttersprache, durch sie wurde uns Trost und Hoffnung zuteil. Wenn sich auch Not und Trauer aneinander reihten wie eine schier endlose Kette, diese Tage in Wochen, die Monate hineinwuchsen in Jahre, seit wir aus unserem Dorf vertrieben wurden, glaubten wir doch fest, wie es im Psalm geschrieben steht: "Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte". Unser Gottvertrauen half vielen von uns zu überleben.