Der Heimat in der Ferne treu geblieben

Margarethe Schönberger †

Margarethes Bruder Erwin

Unsere schwäbischen Vorfahren hatten ihre deutsche Heimat vor Generationen verlassen. Dabei ist es sicher für Auswanderer in den harten Anfangsjahren sehr bequem, in der fremden Umgebung die Zügel schleifen zu lassen, die nicht nur neu, sondern ganz ungewöhnlich war. Die Einflüsse und Eindrücke der neuen Gegend waren bestimmt sehr stark, und sie verbündeten sich mit dem Gedanken sich rasch zu assimilieren. Aber die starke Liebe zur alten Heimat verlieh ihnen statt dessen die Kraft, die eigene Kultur, die deutsche Sprache, die Sitten und Gebräuche, ja auch die von alters her geschätzten Tugenden über Generationen hinweg beizubehalten. Davon zeugten die deutschen Dörfer der Ausgewanderten, die in den unendlichen Weiten Russlands zerstreut lagen. Als kleiner Beweis dessen kann gelten der Besuch von drei deut-

schen Touristen, die den Kaukasus kennen lernen wollten. Ganz zufällig kamen die drei Freunde auch in unser Dorf Luxemburg, das früher Katharinenfeld von seinen schwäbischen Auswanderern und Gründern genannt wurde.

Die Eindrücke der drei Männer, geäußert immer wieder mit großer Bewunderung, schienen übergroß. Sie verbrachten drei angenehme Tage in unserem Dorf.

Ich war zu jener Zeit, es war 1927, Schülerin der Grundschule und ich kann mich noch an einen Namen der drei erinnern, Karl Köstner, war er doch diese drei Tage Gast unserer Familie.

Unsere altschwäbische Sprache erinnerte ihn sofort an Württemberg, wie auch der Baustil unserer Häuser, die Bauernhöfe in ihrer Anordnung, die geraden und sauberen Straßen. Er wähnte sich hier zu Hause, als er die alten deutschen Volksweisen hörte. Erstaunlich wie altmodisch fand er unsere Trachten und der dazu getragene Schmuck, alles entsprach genau den ihm bekannten alten Vorlagen, denn in Deutschland waren diese Trachten längst durch moderne Kleidung ersetzt, bei uns jedoch gehörten sie zum Sonntagsstaat, der zum Kirchgang angelegt wurde. Dem Glockenklang folgten pünktlich die kompletten Familien, die Kirche war gefüllt mit Betern, die den Gottesdienst in deutscher Sprache mit den ihm bekannten alten Kirchenliedern feierten.

Zu Hause erwartete ihn ein reich gedeckter Sonntagstisch mit Nudelsuppe vom Suppenhuhn aus dem eigenen Hühnerhof. Zum Sonntagsbraten gab es wohlschmeckende Kartoffeln und frischen Kopfsalat aus dem eigenen Garten. Es stand auf dem Tisch eine Karaffe mit funkelndem Wein aus dem eigenen Weinkeller. Denn unser fruchtbares Tal war reich

gesegnet mit Obstgärten und ertragbringenden Weinbergen.

All das erstaunte unseren Gast aus Deutschland über alle Maßen. Denn Karl Köstner und seine Freunde fanden diese deutsche Oase in Russland, inmitten asiatischer Umgebung. Über unserem Dorf lag sonntägliche Ruhe, als wir uns mit Großeltern, Tante und Onkel um die große Kaffeetafel mit hausgemachtem Streuselkuchen setzten. Das alles waren Gepflogenheiten bis in die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, die unser Gast und seine Freunde fleißig notierten. Sie stellten uns viele Fragen nach der Vergangenheit und Gegenwart. Sie fotografierten und schrieben alles auf und brachten immer wieder ihr Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass sich die deutschen Traditionen, die Kultur wie auch die Arbeitsweisen über Generationen so unverfälscht erhalten hatten.

Selbstverständlich waren wir höchst interessiert, diese Aufzeichnungen der Reisenden illustriert mit den Fotos von unserem Dorf und seinen Bewohnern einmal in gebundener Form zu sehen, aber sogar ein Briefwechsel mit Deutschland war damals streng verboten.

Und so durften unsere Gäste uns die Beschreibungen nicht zukommen lassen. Aber ab 1940 wurden dann auf einmal wieder Briefe zugelassen. Wir wussten aber, dass solche Presseveröffentlichungen nicht das Papier wert waren, worauf sie gedruckt wurden. Wir sagten uns: "Papier ist geduldig" und trauten uns nicht, einen einzigen Brief nach Deutschland zu schreiben.

Doch dann kam plötzlich ein Brief von dort bei uns an, er war gerichtet an meinen Bruder Erwin. Der Absender war Karl Köstner, der nun schon Professor war. Er schrieb, er würde uns gerne sein Buch mit den Fotos übersenden, sobald er von uns Antwort erhielt, dass wir noch (es war ja schon mitten im Zweiten Weltkrieg) im Dorf Luxemburg wohnten. Am Umschlag erkannten wir erschreckt an Stempeln, dass dieser Auslandsbrief zuerst in die Hände des staatlichen Geheimdienstes gekommen war, ehe er an uns weitergeleitet wurde. Kurz danach wurde mein Bruder deswegen zum Verhör zitiert. Wir sahen ihn nie wieder. Er bezahlte diesen Freundesbrief mit seinem Leben. Seine Ehefrau und die Kinder blieben unversorgt zurück.