Hommage an Elfriede

Christine Kaula, Wipperfürth

Elfriede war sie getauft worden, die Frau, über die ich schreiben will, und Friedel wurde sie gerufen in Schlesien, ihrer Heimat.

Es ist heute noch schwierig, die Beziehung zu ihr emotionslos zu schildern, denn sie war einerseits eine sehr tüchtige und resolute Frau, auf der anderen Seite jedoch voll Härte und oft gnadenlos in Wort und Tat. Erst spät habe ich begriffen, warum sie so war, so hat werden müssen.

Angefangen hat ihre Geschichte, soweit ich sie kenne, nach dem letzten Krieg und zwar im Jahre 1947 in Schlesien. Elfriede, geboren

in Beuthen, verheiratet in Klausberg, stand am Bahnhof in Hindenburg, zwei Kinder an der Hand, einen Koffer neben sich, die Kinder mit ihrem Schulranzen auf dem Rücken, der Gatte und Vater Gott weiß, wo, und wartete auf den Zug in den Westen. Elfriede hatte sich mit der neuen Obrigkeit des Landes angelegt und wohl den Mund etwas zu voll genommen. Ihr Verständnis reichte nicht so weit einzusehen, dass sie nun eine verhasste Deutsche war und ihre Heimat im polnischen Besitz stand. Gut meinende Menschen hatten sie gewarnt und ihr zur Flucht geraten, da sie verhaftet werden sollte. Voller Erbitterung erzählte sie mir später, dass sie noch auf dem Bahnsteig ver-

zweifelt und voller Angst Familienstammbuch, Sparbuch und sonstige wichtigen Dokumente zerrissen und weggeworfen habe, da schon das Hakenkreuz auf den Papieren sie dem Zorn des kontrollierenden polnischen und russischen Wachpersonals ausgeliefert hätte. Zornig stand sie da so ganz und gar gottverlassen auf dem zugigen Bahnsteig, und dieser Zorn sollte ihr ganzes Leben nicht von ihr weichen, ja, er sollte zeitweise sogar in Wut umschlagen und sie zu Dingen treiben, die sie selbst in früheren Zeiten wohl nie für möglich gehalten hätte.

Nach tagelanger Eisenbahnfahrt mit vielen Unterbrechungen und vielem Umsteigen, nach bangen Stunden der Sorge um ihre Kinder und sich selbst, war sie schließlich im Durchgangslager angekommen. Dort verblieb die Kleinfamilie ein Jahr, wurde recht und schlecht ernährt und versorgt und wusste nicht weiter. Dann ein kleiner Lichtblick: Ihnen wurde vom Amt ein Zimmerchen im Umland zugewiesen. Unterm Dach lebten sie dann mit zwei Betten, einem Tisch, Kanonenofen, ein paar Haken in der Wand - sie selbst immer noch ohne Arbeit - ohne Gewissheit, wo der Mann war, und sie hatten beständig Hunger.

Im Sommer pflückten sie und die Kinder für ein paar Groschen Waldbeeren, so lange es welche zu finden gab. Sie suchten Löwenzahn für Salat und durften Kartoffeln auf dem Feld nachlesen, die dann in dem eisigharten Winter im Keller erfroren. Es reichte vorn und hinten nicht. Wie weh muss es ihr getan haben, ihren Kindern damals nicht genug zu essen geben zu können.

Sie hatte nichts mitnehmen können außer dem bisschen Zeug im Koffer für sich selbst und die Kinder. Die Kinderkleidung war bald zu klein geworden, der Sohn besaß in der schlimmsten Zeit nur einen durchlöcherten Pullover und keine Aussicht auf einen neuen. Hatte sie doch einen gut eingerichteten Haushalt zurückgelassen, oft hat sie geträumt von ihrer früheren Wohnung mit Kachelofen und Ofenbank, von reinlichen Stapeln gestärkter und gebügelter Bettwäsche, weißen, schön bestickten Tischdecken, Geschirr und geschliffenen Gläsern.

Ihr besonderer Stolz, die eigene gepflegte Garderobe, Mäntel, Hüte, Kleider - alles hatte sie zurücklassen müssen.

Aber Elfriede war auch ehrgeizig, sie ließ sich nicht unterkriegen. Bevor sie schließlich eine schlecht bezahlte Arbeit in einer Fabrik erhielt, strickte sie nächtelang für andere Leute, arbeitete als Putzfrau, als Hausgehilfin, kurz, sie tat alles, um sich und ihre Kinder durchzubringen. Aber es war schwer, und es machte sie hart und kalt, sich als Alleinerziehende einer Heranwachsenden und eines kleinen Jungen -der Mann würde nie mehr wiederkommen - zu behaupten.

Ihrer Tochter, einem klugen Mädchen, konnte sie keine weiterführende Schule ermöglichen, sie musste ebenfalls "in die Fabrik" und helfen, die Familie durchzubringen. Doch ambitio-niert, wie Elfriede war, legte sie großen Wert darauf, dem Mädchen zumindest eine gute Aussteuer zu beschaffen.

Schließlich, als die Wohnungsnot etwas nachgelassen hatte, konnten sie in eine Zweizimmerwohnung einziehen, ein wahrer Luxus für die kleine Familie. Die Tochter heiratete früh, wie viele Mädchen in der damaligen Zeit.

Nun war auch die Zeit gekommen, dass man sich endlich wieder satt essen konnte. Und da blühte Elfriede auf. Sie erinnerte sich aller köstlichen Gerichte, die sie in Schlesien oft und gern gekocht hatte, denn sie war immer eine gute Köchin gewesen. Polnische Klöße, gebratene Pute mit Fleisch- und Semmelfüllung, Heringskartoffeln, schlesische Mohnkränze, Karpfen, Streuselkuchen, an all diese Köstlichkeiten hatte sie in den schlechten Zeiten immer wieder gedacht. Nachts, wenn sie strickend auf ihrem harten Stuhl saß, träumte sie davon, was sie kochen würde, wenn sie diese oder jene Zutat besäße. Nun konnten sie endlich wieder essen, was sie wollten - und wie sie aßen! Mir wurde berichtet, dass eine gehaltvolle, buttercremereiche Torte am Sonntagnachmittag gerade für vier Personen reichte - und dann wurde drei Stunden später noch deftig zu Abend gegessen. Ja,

die Menschen damals hatten wohl ein ungeheures Nachholbedürfnis. Und von solch einer Küche, die arbeitsaufwendig, aber auch sehr kalorienreich und nahrhaft war, kommt man später schwer wieder ab, wenn man daran gewöhnt ist.

Wie auch die Herstellung der "polnischen" Klöße, die an keinem Sonntag auf dem Tisch fehlen durften. Diese wurden zu gleichen Teilen aus gekochten Kartoffeln, die durch eine Kartoffelpresse gedrückt wurden, und aus geriebenen rohen Kartoffeln, die in einem Leinensäckchen ausgepresst wurden, hergestellt. Salz kam hinzu, Eier und Kartoffelmehl, die Masse wurde zu Klößen geformt und eine halbe Stunde in siedendem Wasser gegart. Sie schmeckten köstlich zu gebratenem Fleisch. Sie hat einmal erzählt, dass ihr verstorbener Mann Bergmann gewesen sei, diese Menschen hätten sich wegen ihrer schweren Arbeit immer gut und reichlich ernähren müssen, um bei Kräften zu bleiben. Sonntags, wenn die Bergleute zum Frühschoppen gingen, habe sie den ganzen Vormittag an ihrem Küchenherd gestanden, um die Mittagsmahlzeit zuzubereiten.

Weihnachten gab es traditionell einen besonderen Nachtisch, den sie auch in der neuen Heimat zubereitete. Er hieß im Schlesischen "Motschka". Hierfür weichte sie über Nacht Trockenobst, bestehend aus Feigen, Pflaumen, Apfelringen und Aprikosen ein. Am anderen Tag wurden die Früchte mit Dunkelbier und Honigbrot gekocht. Als Verfeinerung kamen viele gestiftelte Mandeln hinein, und gesüßt wurde das Ganze natürlich noch mit Zucker. Ein Nachtisch, der normalerweise eine ganze Mahlzeit ersetzen konnte. Schlesische Weißwürste und Wellwürste gab es bei einem Metzger, der sich in der Nähe niedergelassen hatte und diese Spezialitäten anbot.

Nachdem das Essbedürfnis endlich wieder gestillt war, erfüllte sie sich ihre anderen Wünsche. Sie kaufte neue Bettwäsche, Handtücher, Tischwäsche, Gläser und Bestecke. Schon immer hatte sie für einen schön gedeckten Kaffeetisch geschwärmt, feines Kaffeegeschirr

wurde angeschafft. Von ihrem Arbeitgeber konnte sie billig Wolle erwerben und knüpfte Brücken, kleine Teppiche, sie stickte große und kleine Gobelinbilder, bis sie alle Fußböden belegen und die Wände voll hängen konnte. Und das Schönste sparte sie sich bis zuletzt auf: den echten Persinanermantel. Endlich hatte sie wieder das Gefühl, gleichberechtigt unter anderen zu sein.

Doch dann hat sie auch in der neuen Heimat unerbittliche Schicksalsschläge hinnehmen müssen, über die sie nur schwer hinweggekommen ist. Ihre Tochter starb im Kindbett und hinterließ Mann und Kind. Ihr Sohn verlor seine Frau früh durch Krankheit und blieb mit den kleinen Kindern zurück. Das alles, die schweren Jahre, die Erinnerung an die Flucht, die ausgestandenen Ängste, die persönlichen schmerzlichen Verluste, und vielleicht die Furcht, dass die schlimmen Jahre einmal wiederkommen könnten, hat sie zu der Frau gemacht, die sie nun einmal geworden war. Wäre sie anders - freundlicher, milder, gerechter - geworden, wenn sie in der Heimat hätte bleiben können? Ich - die viele Jahre mit ihr Tür an Tür lebte - weiß es nicht zu sagen. Aber trotzdem oder gerade deswegen gebührt ihr posthum ein kleines Monument, das ich ihr hiermit und an dieser Stelle errichtet habe.