Das letzte Blatt am Baum

Eine Dachkammer in Paris, der großen Stadt,
die so viel Glanz und viel Elend hat,
Stadt der Liebe genannt und der Lust.
Ein ärmliches Lager, ein Mädchen darin,
Marie, die kleine Näherin,
schmerzlich atmend mit kranker Brust.

Sie schafft nur mühsam ihr täglich Brot,
oft zu wenig zum Leben, zuviel zum Tod,
und wird längst nicht immer satt.
Doch sie liebt das Leben und ihren Freund,
einen Maler, der mit ihr lacht und weint.
Wär' sie nur nicht so krank und so matt.

Ihr Blick geht zum Kammerfenster hinaus
auf den Baum am Giebel vom Nachbarhaus,
ein letztes Blatt schaukelt müde daran.
Und wird dieses Blatt über Nacht verwehn,
dann, denkt sie, muss auch ich wohl gehn.
Sie sieht das als Zeichen an.

Und wenn's nun bis morgen hängen blieb?
Mein Gott, wie hat sie das Leben so lieb!
Verzweifelt hebt sich ihr der Mut.
Ihr Freund tröstet sie auf seine liebe Art:
"Es hängt morgen noch da, der Wind weht nur zart,
und dann geht's dir wieder gut."

Er deckt sie liebevoll zu und geht nach Haus,
seine Schritte verhallen im Treppenhaus,
und die lange Nacht fällt herein.
Doch als sich am Morgen das Dunkel hebt,
da sieht sie das Blatt und sie erbebt.
Es hängt noch da, kann das denn sein?

Ein Glück überkommt sie, süß und jäh,
auch das Atmen tut gar nicht mehr so weh,
und das Leben klopft an die Tür.
Sie steht auf und kleidet sich an wie gewohnt,
auch das hätte sie gestern noch nicht gekonnt,
der Freund kommt und freut sich mit ihr.

Noch am Mittag hängt das Blatt still und starr,
da stimmt etwas nicht, das wird ihr klar,
und sie weiß auch bald schon den Grund:
Der Gefragte lächelt und sein Auge strahlt,
"Ja, ich habe es in der Nacht gemalt,
und schau, du bist bald schon gesund."

So hat ihr das letzte Blatt über Nacht
durch die Hoffnung das Leben neu gebracht!

Thekla Heinzen, Feusdorf