Fußballweltmeisterschaft 1954

Brigitta Westhäusler, Hillesheim

60 Jahre Bundesrepublik Deutschland, aber kaum ein Ereignis hat das breite Interesse der Öffentlichkeit mehr angezogen als jenes und kaum ein anderes ist im Gedächtnis besser haften geblieben.

Ich habe eine besondere Erinnerung an diesen Tag.

An jenem 4. Juli 1954 war ich sieben Jahre alt und saß in der zweiten Bank in der linken Reihe in einem Klassenzimmer. Es war warm, denn ich trug ein leichtes Sommerkleid mit einer Schürze darüber, so wie es damals üblich war. Neben mir saß Annemarie, meine beste Freundin, und sie machte sich einen Spaß daraus, gegen die Flügelärmel, die meine Schürze zierten, zu pusten, so dass sie sich wie im Wind bewegten. Das plötzliche Auftauchen der Lehrerin machte dem ein abruptes Ende. Wir waren im zweiten Schuljahr, und Fußball gehörte nicht gerade zu unseren Interessen, obwohl die Erwachsenen wohl darüber gesprochen haben müssen.

Interessanter waren unsere Griffeldosen. Diese waren aus Holz mit einem Schiebedeckel, auf dem ein hübsches Motiv aufgemalt war. Ich hatte schöne rote Marienkäfer auf grünen Blättern. Die sehe ich heute noch vor mir. Wir schrieben noch mit Griffel, und die Tafel begleitete uns noch eine Weile. In so einer Dose lagen etwa zwei oder drei Griffel und der Spitzer. Mehr brauchte man nicht. Das Ende eines solchen Schreibgeräts war mit schönem buntem Papier umwickelt, damit man es besser

in der Hand halten konnte. Ein Griffel musste gespitzt werden, nicht so, wie man einen Bleistift spitzt. Ein Griffelspitzer war länglich, besaß ein Metallteil wie eine Feile und war in der Mitte eingekerbt, so dass der Griffel wie in einer Rille lag. Durch Hin- und Herschieben spitzte er sich dann.

Meine Banknachbarin und ich gaben uns dieser Beschäftigung mit Inbrunst hin, nachdem wir zuerst noch das Papiermuster begutachtet hatten. Welches war wohl das schönere? Nun-jede von uns hatte den Ehrgeiz, den Griffel mit der längsten und dünnsten Spitze zu haben! Um das richtig einschätzen zu können, kamen wir auf die glorreiche Idee, uns mit dem Schreiber in die Wange zu pieksen. Annemarie hatte die Probe schon gemacht, und ich rieb mir die Stelle ein wenig. Dann kam ich an die Reihe. Ich setzte gerade an, als ich einen Schatten sah und kurz darauf einen heftigen Schmerz verspürte. .Klatsch' hatte es gemacht, und unsere Lehrerin hatte mir eine saftige Ohrfeige verpasst. Es folgte eine Strafpredigt, und ich wäre am liebsten in einem Mauseloch verschwunden. Unser harmloses Tun sollte schwerste Verletzungen hervorrufen? Irgendwie verstand ich die Welt nicht mehr. Und typisch, ich wurde erwischt, und meine Nachbarin nicht.

Ich weiß nicht, was meine Lehrerin noch mit mir gemacht hätte - jedenfalls ertönte plötzlich ein Klingeln, obwohl es noch nicht das Ende der Stunde war. Die Klassentür wurde

aufgerissen und jemand brüllte: "Deutschland ist Weltmeister! Es ist jetzt schulfrei!" Zuerst verstanden wir nicht richtig. Es herrschte großes Durcheinander und Aufregung. Von überall hörte man laute Jubelrufe. Wir durften dann unsere Sachen packen und nach Hause gehen. Weil es früher als sonst war, begab ich mich zuerst zu meiner Oma und erzählte ihr, warum ich schon da war. Bei ihr herrschte auch Hochstimmung. Das Radio dröhnte, und mein Opa hatte einen Schnaps auf dem Tisch stehen. Dann sah mich meine Großmutter genau an und fragte: "Was ist denn mit Dir passiert?"

"Wieso?", wollte ich wissen. "Was soll denn sein?" "Du hast ja den Abdruck einer ganzen Hand im Gesicht! Hat Dich jemand geschlagen?" Dass die Ohrfeige meiner Lehrerin so heftig war, konnte ich nicht wissen. Jetzt musste ich also zugeben, was ich angestellt hatte. Kleinlaut erzählte ich, was passiert war. Oma wurde ernst und erklärte mir, wie leicht so ein Griffel in ein Auge hätte geraten können. Aber dann sagte sie: "Wir kühlen das jetzt mit Essigwasser, und dann müssen Deine Eltern nichts davon erfahren." Es blieb unser Geheimnis, und den Tag der Weltmeisterschaft habe ich so nie vergessen.