Wir sind wieder wer!

Das Wirtschaftswunder in Deutschland

Clothilde Retterath, Lind

Als "Vater des Wirtschaftswunders" gilt gemeinhin der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland, Ludwig Erhard, dessen Markenzeichen die Zigarre war. Er reformierte die nach dem Krieg desolate Wirtschaft, in dem er die soziale Marktwirtschaft in Deutschland einführte. Diese Wirtschaftsordnung beinhaltet sowohl die freie Marktwirtschaft, um den Handel voranzutreiben und Angebot und Nachfrage ihren Freiraum zu lassen als auch die soziale Gerechtigkeit, um für soziale Härten ein Auffangnetz aufzubauen. Das heißt: "So viel Markt wie möglich, so wenig Staat wie nötig." Diese Politik ging auf. Nach der Zeit, als das Geld keinen Wert mehr hatte, und meist Naturali-

en den Tauschhandel bestimmten, wurde eine neue Währung eingeführt, die Deutsche Mark, die viele Jahre bis zur Einführung des Euro das Vertrauen der Menschen in ihren Wert hatte.

In die deutsche Wirtschaft wurde gerne investiert, da es hier motivierte Arbeiter, niedrige Löhne und eine stabile Währung gab. Die Menschen waren engagiert und wollten aus dem Elend der Kriegszeit herauskommen. Aus den Trümmern bauten sie mit Fleiß, Schweiß, Enthaltsamkeit und Sparsamkeit etwas auf. Es war ein Aufstieg durch harte Arbeit. Viele wollten die schrecklichen Kriegserlebnisse und Traumata durch Arbeit vergessen. Damals gab es noch die

Sechs-Tage-Woche, da samstags voll gearbeitet wurde. Und wer fleißig war, profitierte langsam und stetig vom Wohlstand. Fleiß und Disziplin gelten in der Welt als deutsche Tugenden, dessen Charakterisierung ihren Ursprung in der Zeit des Wiederaufbaus des zertrümmerten Deutschlands hatte. Die Menschen gaben nicht auf, sondern packten tatkräftig mit an. Es gab Arbeit für alle. Der Wiederaufbau der Häuser bedeutete goldene Zeiten für die Bauwirtschaft. Die gesamte deutsche Wirtschaft boomte (im Westen), so dass die Bundesrepublik Deutschland bald führende Exportnation wurde. Zweistellige Wachstumsraten pro Jahr führten zu einem allgemeinen Optimismus in der Bevölkerung. Journalisten beschrieben den Erfolg in den Medien, so dass sich das positive Gefühl immer weiter ausbreitete. "Es geht wieder aufwärts!"

Die Bundesrepublik wurde ein wirtschaftlich starker Partner für die Westmächte und dadurch auch ein stabiler politischer Partner, der auch als Bollwerk gegen den Osten gebraucht wurde. Die Hilfe der USA im Rahmen des Marshallplans unmittelbar in der Nachkriegszeit war nicht nur eine Hilfe zur Selbsthilfe, sondern hatte auch politische Gründe. Nach all den Jahren der Entbehrungen konnten sich die Leute zunehmend etwas leisten. Es gab jetzt wieder Kaffee, Butter, Sahne und Schokolade. Auch exotisches Obst wie Apfelsinen und Bananen kamen auf den Markt und Luxuswaren wie Sekt waren erhältlich. Die "Fresswelle" erfüllte zwar Träume, doch setzte das auch an und führte dazu, dass die Allgemeinbevölkerung im Schnitt immer dicker wurde. "Wohlgenährt" war auch das Schönheitsideal dieser Zeit, die noch keine Magermodels kannte. Bei durchschnittlich 480 DM Monatslohn ging jede zweite Mark für Essen drauf.

Nach dem Bauboom und des nun erfüllbaren Wunsches so vieler Familien nach einem Eigenheim kam auch die Einrichtungswelle. Die Wohnungen wurden in Ordnung gebracht und neue Möbel angeschafft: im Stil der Hochglanzmöbel der 1950-er Jahre mit ihren puristisch designten Formen, wie zum Beispiel die

Nierentische. Ein typisches Symbol des Aufschwungs jener Jahre ist auch der VW-Käfer. Mitte der 1950-er Jahre konnte sich zwar nur jeder Fünfte ein neues Auto leisten und für die Meisten schien das ein unerfüllbarer Traum, also unerreichbar. Denn anfangs war der VW-Käfer nur ein Exportschlager, die Mehrzahl der Bevölkerung fuhr höchstens Motorrad, Moped oder Vespa. Doch stiegen die Löhne stetig und mit ihnen auch die Ansprüche. So konnten sich in späteren Jahren auch die Arbeiter ein Auto leisten. In der landwirtschaftlich geprägten Eifel wurden sicher Traktoren und Landwirtschaftsgeräte zunächst dringender gebraucht und angeschafft.

Durch die Wandlung vom Agrar- zum Industriestaat wurde es für die Bewohner vom Land auch leichter, Geld in der Stadt zu verdienen. Dies betraf vielfach Bauern aus Kleinstbetrieben, die ihren Hof nun nur noch nach Feierabend im Nebenerwerb weiterführten. In der Bimsindustrie fanden viele Eifeler eine neue Beschäftigung.

Auch Küchengeräte, wie Kühlschränke und andere Küchenhelfergeräte, waren nun angesagt. Die Frauen machten sich wieder schicker, kauften Kleider, Schuhe sowie Make-up und ließen sich beim Friseurbesuch verschönern. Im Vergleich dazu kaufte sich die Durchschnittsfrau noch vor 1940 erst alle dreißig Jahre ein neues Kleid, heute kaum zu glauben. Man lud wieder Freude zu sich nach Hause ein und servierte ihnen so exotisch klingende Gerichte wie "Hawaitoasts" oder spielerisch arrangierte Nahrungsmittel wie "Käseigel". Nachdem die Regierung den Lastenausgleich beschlossen hatte, erhielten auch die ehemalig armen Flüchtlinge so viel Geld, dass sie sich die gleiche Existenz und damit den Wohlstand kaufen konnten, wie sie sich die Alt-Bevölkerung über mehrere Generationen aufgebaut hatte.

Man hörte schließlich zunehmend auch von sehr reichen Leuten, die sich einen Urlaub in Italien, beispielsweise an der Riviera leisten konnten. Dies blieb freilich für die Allgemeinbevölkerung mit ihren vierzehn Tagen Jahresurlaub bloß ein Traum. Doch kann träumen

manchmal auch schön sein und so entwickelte sich der Urlaub zu einem beliebten Stoff für Spielfilme und fürs Kino. Auch Heimatfilme, die in den Bergen spielten, waren sehr beliebt. In Schlagerliedern wurde der Urlaub ebenfalls gerne thematisiert. Die Sehnsucht nach Italien zeigte sich daneben durch die zunehmende Zahl der Eröffnungen von italienischen Eiscafes in Deutschland.

In den Aufschwungjahren hatte sich ein neues "Wir-Gefühl" entwickelt. "Wir leisten wieder was. Wir sind wieder wer!" waren die Leitgedanken der typischen Deutschen, deren nach dem Krieg angeschlagenes Selbstbewusstsein in den Wirtschaftswunderjahren wieder auf ein normales Niveau wachsen konnte. Es war eine Zeit, in der die Meisten positiv in die Zukunft schauen konnten.