Schutzimpfung und Lavagruben

Eine gute Zeit

Gisela Bender, Deudesfeld

Die 1950-er Jahre waren, aus meiner heutigen Sicht, eine Zeit des allgemeinen Aufbruchs. Obwohl keine Familie im Dorf lebte, die nicht an den Folgen des unseligen Krieges zu tragen hatte, wagte doch jede nun einen Neubeginn. Im April 1950 wurde ich in die Volksschule eingeschult. Ich blieb die ganzen Schuljahre hindurch die Kleinste und die Jüngste. Dieser Umstand hinderte mich nicht daran, mich gegenüber den Großen durchzusetzen. Obwohl wir Kinder damals ausnahmslos in der Landwirtschaft mitarbeiten mussten, fanden wir immer irgendwie die Zeit, um ins Dorf zu huschen und zu spielen. Das taten wir intensiv

und wir vergaßen alles um uns herum. Gut in Erinnerung habe ich noch die Untersuchungen des Amtsarztes in der Schule. Zu Beginn meiner Schulzeit wollte man die durch die Kriegsjahre vernachlässigten Impfungen nachholen. In Begleitung des Amtsarztes war stets Frau Julchen, die im Dorf als die Schwester der Förstersfrau bekannt war. Sie war eine Angestellte des Gesundheitsamtes in Daun. Im Gänsemarsch marschierten wir erst an Jul-chen vorbei. Sie ordnete die Personalien, dann schob sie uns einzeln weiter zur Amtsärztin. Unterbrochen wurde die Zeremonie immer wieder von unwilligen Probanten. Die einen

heulten, andere wollten sich der Sache entziehen und nach Hause laufen. Dieses Schauspiel wiederholte sich stets, wenn der Arzt oder die Ärztin in die Schule kamen. Eine Woche später kamen sie dann zur Nachuntersuchung wieder in die Schule. Gerade diese Impfung hatte es in sich, sie ist bis heute noch nicht vergessen. Die Impfstelle eiterte wochenlang. Die Ärztin, das Gesundheitsamt, sowie die Eltern wussten keinen Rat. Wochenlang kam eine Schwester von Manderscheid und behandelte die Wunde mit Bädern. Von dieser Aktion übrig geblieben ist bei mir ein walnussgroßer Krater in meinem Oberschenkel. Trotz vieler Hindernisse ging es bergauf. Unser erster Bundeskanzler Konrad Adenauer gewann mit seiner ansprechenden rheinischen Lebensart schnell das Vertrauen der Menschen im In- und Ausland. Ludwig Erhard kurbelte die Wirtschaft an, und selbst schaulichen Dorf hatten beginnenden Wirtschaftswunder. Auf dem Weihnachtsteller fanden wir die erste Apfelsine. Welch ein Weihnachtswunder. Mein Bruder bot seinem Freund Heinz, der ihn in diesen Tagen besuchte, eine Apfelsine an.

wir in unserem beNutzen von dem

Heinz wies sie mit den Worten zurück: "Mir honn sälwa Aplasinen!" Es ging unübersehbar aufwärts in unserem Dorf. Aus Mitteln des "Grünen Plans" wurde das Dorf kanalisiert, Straßen gebaut. Die damaligen Gemeindevertreter waren weitblickend und offen für Veränderungen. Die Waschanstalt wurde gebaut, eine Flüchtlingsfamilie führte sie zu Beginn. Jetzt konnten die Bauersfrauen ihre Schmutzwäsche hinbringen und tags darauf sauber gewaschen wieder abholen. Im Keller des Waschhauses waren drei Duschen angebracht, die an den Samstagen überwiegend von den Jugendlichen genutzt wurden. WC und Badezimmer kamen erst einige Jahre später in die Häuser. Auch eine Kühlanlage wurde gebaut. Jede Familie konnte sich hier eine Truhe mieten. Fernsehapparate kamen in die Dörfer. "Stolda Maria", die Mutter des heutigen Wirts hatte wohl als erste im Dorf einen Fernsehapparat. Die Kinder des halben Dorfes fanden sich nun dort ein, um das Nachmittagsprogramm zu sehen. Zwei Kinderserien haben sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt, Lassie und Fury. "Stolda Maria" hatte wahrlich gute Nerven, denn der Fernseher stand in der Küche. Wir Kinder saßen auf dem Küchentisch und auf dem Boden. Während dieser Invasion musste die Küchenarbeit eingestellt werden. Das änderte sich erst, als nach und nach auch andere Familien sich einen Fernsehapparat anschafften.

Mit dem Bau des amerikanischen Flugplatzes in Bitburg erhielten die Männer die Möglichkeit, dort zu arbeiten. So kam regelmäßig Geld in die Häuser, man war nicht mehr allein auf die Landwirtschaft angewiesen. Kurt Leyende-cker erkannte die Chance und kaufte einige Parzellen Land in Bettenfeld, wo Lavaaufkommen zu erwarten war. Das Geschäft sollte sich auszahlen, riesige Mengen Lava wurden per Lastwagen Tag und Nacht zum Flugplatz Bitburg gebracht. Kurt beschäftigte nun selbst einige Männer aus dem Dorf, und die Lavagruben sicherten "Hären Kurt" auf Lebenszeit sein finanzielles Auskommen. Deudesfeld wurde zum Luftkurort ernannt, in einer Zeit, in der die Nachbardörfer noch keinen Gedanken daran verschwendeten. In

unserem Dorf eröffnete sich damit eine neue Verdienstchance, der Tourismus. Die Wirtsfrau "Stolda Maria", Metzger Frieda und das Hotel Leyendecker nahmen die ersten Feriengäste auf. In Desserath hatte bereits das "Haus Anni" geöffnet und seitdem viele Tausend Gäste betreut.

Das dörfliche Leben veränderte sich in einem rasanten Tempo. Immer mehr Betriebe gaben die Landwirtschaft auf, immer mehr suchten Arbeit beim Straßenbau. Das Geld wurde vornehmlich in die Verschönerung der Häuser gesteckt. Alsbald verändert sich der Lebensstandard, man wurde mobiler. Motorräder oder Autos wurden angeschafft. Auch zu Hause bei

uns schlug die Entwicklung durch. Onkel Pittchen, der Bruder meines Vaters, der uns immer zur Heu- und Getreideernte half, kam eines Tages mit einem 500er Fiat angefahren. Wie herrlich! Nun brauchte ich die weiten Wege zu den Heuwiesen nicht mehr zu Fuß zu gehen. Nein, Onkel Pittchen fuhr, zwar sehr holperig, aber das Wägelchen lief. Unsere Rechen stellten wir aufrecht aus dem Schiebedach heraus. Im ganzen Land ging es aufwärts, überall blühte der beginnende Wohlstand. Meine Schulzeit ging zu Ende. Wie gerne hätte ich weiterstudiert oder wenigstens einen Beruf erlernt. Aber für uns Mädchen war die Zeit dazu noch nicht reif, etwas, was ich in dieser Zeit bedauert habe.