Telefon und Versehgang

Florian Schulten, Gerolstein-Lissingen

In meinem Elternhaus in Berndorf unterhielten mein Großvater, dann meine Mutter und zuletzt meine Schwägerin Martha ein Kolonialwarengeschäft, eine Gastwirtschaft und die örtliche Poststelle. Hier war auch das öffentliche Telefon installiert, das heißt, jedermann konnte, natürlich gegen Gebühr, bei uns telefonieren. An der Hauswand war neben den Werbeschildern von Persil und Königsbacher Bier ein weiteres mit der Aufschrift Post-Öffentlicher Fernsprecher angebracht. Insgesamt gab es drei Telefonanschlüsse im Dorf, bei der Poststelle, beim Pastor und dem Bürgermeister. Worüber ich heute schreibe, war die Zeit der Vierziger-/Anfang der Fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Unser Telefon hatte die Anschlussnummer Hillesheim 305. Kam ein Anruf, musste man sich melden: "Öffentliche Berndorf". Da es der einzige öffentliche Anschluss im Dorf mit damals rund 500 Einwohnern war, wurde auch unser Telefon sehr beansprucht. Natürlich gab es seitens der Post bestimmte Vorschriften, das Postgeheimnis betreffend. Es war ein Unterschied, ob es sich um ein sogenanntes Ortsgespräch handelte oder

ein Ferngespräch. Die Ortsgespräche im Ortsnetz Hillesheim konnten direkt angewählt werden. Hier handelte es sich meistens um Anrufe bei den Ärzten in Hillesheim, dem Tierarzt, dem Bahnhof zwecks Fahrplanerfragung, bei Handwerkern sowie der Amtsverwaltung. Ein Ferngespräch dagegen musste beim Fernamt in Gerolstein angemeldet werden. Hierbei verging oft geraume Zeit, ehe die Verbindung zustande kam. Bei Gesprächsende, wurde wiederum das Fernamt gebeten, die Gebühr mitzuteilen, die der Kunde zu entrichten hatte. Diese Einnahmen wurden in eine Liste eingetragen und monatlich an die Landpoststelle in Gerolstein abgeführt. Später wurde eine Zeitschaltuhr installiert, welche die Gesprächseinheiten zählte. Je nach Entfernung der Telefonzonen lief die Uhr entsprechend schnell. Die Gebühren betrugen damals je Einheit 13, später bis 23 Pfennige.

Es kam nicht selten vor, dass von auswärts angerufen und gebeten wurde, jemand ans Telefon zu rufen. Dieses war nicht gestattet. Solche Wünsche mussten über das Fernamt angemeldet werden und für den Gang waren

30 Pfennige zusätzlich vom Anmeldenden zu entrichten. Es hieß in diesem Falle seitens des Fernamtes z. B.: "Rufen sie bitte Frau X für Frau Y aus Köln!" Jetzt mussten wir Kinder die gewünschte Person ans Telefon rufen. Schnell lief ich oder fuhr mit dem Fahrrad durch das Dorf, und bat die gesuchte Frau zum Telefon. Diese war meist bei der Hausarbeit, putzte sich schnell noch die Hände an der Kittelschürze ab und lief in unser Haus zum Telefonieren. Nun musste wiederum das Fernamt bemüht werden, zur Mitteilung, dass jene Frau anwesend sei. Dann wurde die Verbindung hergestellt. Es handelte sich in der Regel um familiäre Angelegenheiten, wie die Meldung von Geburten, Sterbefällen, Krankheiten etc. Die Wartezeiten in unserem Hause konnten durch den Einkauf im Laden übergangen werden und hier bot sich auch ein Schwätzchen mit anderen Kunden an, wobei auch die dörflichen Neuigkeiten gerne ausgetauscht wurden. In unserer Gastwirtschaft wurde manches Skatspiel begonnen, um die Warterei zu überbrücken. Oft haben sich Skatrunden über Stunden hingezogen, es gab also keine Langeweile in unserem Hause. In diesen Jahren war ich ein eifriger Messdiener. Oft kam es vor, dass mich meine Mutter in der Nacht weckte und zum Beispiel sagte: "Flori, der Herr Pastor hat angerufen, du sollst um zwei Uhr vor der Sakristei warten, es geht zu einem Versehgang." Es gab zwar viele Messdiener, aber ich war als einziger am Telefon zu erreichen. Schnell sprang ich in Hemd und Hose und lief durch das stille, dunkle Dorf zur Kirche, wo ich meistens vor dem Herrn Pastor ankam. Leise, bewegte ich mich durch das Dorf, um nicht die Hunde zu wecken, denn hatte der erste mich gehört, pflanzte sich das Gebell fort von Haus zu Haus. In der Sakristei zog ich mir den Messdienerkittel über, machte die Laterne mit dem Glöckchen fertig und wartete, bis der Herr Pastor sein Buch, die heiligen Öle, das Weihwasser und die Hostien verstaut und seinen Talar angezogen hatte. Jetzt gingen wir durch das finstere Dorf. Die Laterne leuchtete, das Glöckchen bimmelte und bimmelte, und die Hunde bellten und bellten, und an einigen Häusern wurden die Fenster hell. Im Hause des Kranken wurden wir

erwartet. Da der Herr Pastor mit der Beichte begann, musste ich wegen des Beichtgeheimnisses im Flur oder in der Küche warten. Nach der Absolution durfte ich ins Krankenzimmer, denn jetzt wurde zur heiligen Kommunion von mir das "Confiteor" in lateinischer Sprache gebetet, und der Schwerkranke empfing die Hostie. Anschließend erfolgte die letzte Ölung und nun war der Patient mit den Tröstungen der heiligen Kirche versehen und durfte der Genesung hoffen, oder gestärkt durch die Sakramente in Frieden sein Leben in Gottes Hände geben. Solche Versehgänge mitten in der Nacht waren immer sehr interessant für mich. Angst hatte ich nie, denn was sollte mir geschehen, hatte ich doch den lieben Gott und den Herrn Pastor bei mir. Diese Erfahrungen hatte ich nur unserem Telefon zu verdanken. Auch in Berndorf ist die Entwicklung weiter gegangen. Nachdem in jedem Haushalt mittlerweile ein Telefon war, wurde im Jahre 1997 die Poststelle im Rahmen der Rationalisierungsmaßnahmen geschlossen und ist somit Geschichte.