Anbau an unser Bauernhaus im Jahre 1956

Bauen in der Wirtschaftswunderzeit

Tamara Retterath, Lirstal

In einer Großfamilie bin ich aufgewachsen. Mein Vater und meine Mutter mit uns zwei Kindern, meine Großmutter und deren Schwester lebten in einem kleinen Bruchstein-Bauernhaus zusammen.

Die Wohnung bestand im Parterre aus einer Wohnküche, der "guten Stube", die man heute Wohnzimmer nennt, und einem kleinen Kinderzimmer, in dem ich übernachtete. Oben im ersten Stock gab es die gleiche Raumaufteilung bestehend aus zwei Schlafzimmern, jeweils für meine Eltern und die beiden älteren Frauen,

und einem kleinen Kinderzimmer für meine Schwester. In der Küche wurden alle vierzehn Tage Brote in einem Stein-Backofen gebacken. Wohn- und Schlafräume hatten Dielenböden. Die Toilette war draußen im kleinen "Herzhäuschen". Ein Badezimmer war damals noch nicht vorhanden. Gebadet wurde samstags in der gefliesten Wohnküche in einer Zinkwanne, in die erhitztes Wasser geschüttet wurde und in die nacheinander alle Bewohner stiegen. Natürlich wurde das Wasser zwischendurch gewechselt.

Unser Lebensunterhalt wurde durch die Landwirtschaft bestritten. Um die Ernährung der Familie sicherzustellen, hatte mein Vater noch Gemeindeland hinzugepachtet. Da damit auch der Ertrag an landwirtschaftlichen Erzeugnissen stieg, benötigte man nun auch eine größere Lagerkapazität.

Im Keller unseres Wohnhauses - es waren lediglich zwei Zimmer unseres alten Hauses unterkellert - wurden hauptsächlich Kartoffeln, aber auch Rüben, gelagert. Auf dem Speicher deponierte man Getreide. Jedoch reichten Keller und Speicher für den damaligen landwirtschaftlichen Betrieb bald nicht mehr aus. Dies und die beengte Wohnsituation in unserem kleinen Haus mit einer Wohnfläche von 70 m2 waren schließlich Auslöser, einen Anbau an das alte Haus vorzunehmen. Deshalb beauftragten meine Eltern zuerst den "Planmächer" (Architekt) Peter Weber aus Bereborn mit der Zeichnung des Anbaus. Mein Vater holte dann die behördlichen Genehmigungen ein. Den Anbau finanzierten meine Eltern zum Teil damit, dass sie ein eigenes Waldstück abholzten und die Stämme verkauften. Holz lag damals hoch im Kurs und so konnte ein guter Verkaufserlös erzielt werden. Damals war es üblich, dass der Bauherr aktiv am Bau mitarbeitete. Da mein Vater aber Bauer war und Rücksicht auf den Agrarbetrieb nehmen musste, legte er bestimmte Bauetappen außerhalb der Erntesaison. Deshalb wurde der Keller im Herbst bis in den Winter hinein ausgeschachtet, und zwar von Hand! Der Keller des alten Hauses lag tief im Boden, folglich musste auch für den neuen Keller tief gebuddelt werden. Zu diesem Zeitpunkt war ich 15 Jahre alt, und ich kann mich gut daran erinnern, wie wir in jenem Spätherbst und Winter tagelang bei Wind und Wetter mit Hacke und Schaufel ausgegraben haben. Baumaschinen wie Bagger und Raupe waren für private Bauherren auf dem Land seinerzeit zu kostspielig und daher nicht üblich. Auch das Pferd musste seinen Beitrag zu den Ausschachtungsarbeiten leisten. Es stand mit dem Wagen zum Abtransport der ausgeschaufelten Erde bereit. Wir hatten dem Tier eine Decke aufgelegt, um es vor Nässe und Kälte zu schützen. Wenn die Witterung zu extrem war, wurde das Pferd aber ausgespannt und zum Aufwärmen in den Stall geführt, bis der Wagen voll Erde geladen und transportbereit war.

Den restlichen Winter über waren wir mit der Beschaffung der Baumaterialien beschäftigt. Aus dem gemeindeeigenen Steinbruch hatte mein Vater die Bruchsteine für den Keller selbst herausgebrochen und sie zur Baustelle transportiert. Auch der Sand für die Anmischung des Mörtels zur Errichtung der Mauern musste aus der Sandkaule (Grube) des Nachbarortes beschafft werden. Der Eigentümer der Sandgrube hatte das bestellte Material schon zum Abtransport bereitgestellt. Auf unserer Baustelle musste der gesamte Sand jedoch vor seiner Verwendung zunächst gesiebt werden. Hierzu wurde ein großes Sieb (1,50 m hoch und 1 m breit) halb schräg auf den Boden aufgestellt und der Sand hindurchgeschmissen. Der reine Sand fiel dann durch das Sieb während Brocken und Steine, die nicht durch das Sieb kamen, entlang desselben nach unten aufden Boden kullerten.

Im Winter hatten wir das Bauholz für den Dachstuhl und die Verbretterung des Daches eingeschlagen. Da unsere Familie einen eigenen kleinen Wald besaß, verbilligte das unsere Baukosten. Wir fällten unseren Fichtenbestand. Die Stämme schälten wir und schnitten sie auch gleich auf die passende Länge. Sie blieben dann im Wald liegen, um zu trocknen. Im April transportierten wir das gesamte Holz zu einem Sägewerk und beauftragten es mit dem Schneiden sowohl von Balken als auch von Brettern. Im Frühjahr ging es dann endlich richtig mit dem Bauen los. Wie das alte Haus, wurde auch der neue Keller aus Bruchsteinen erbaut. An der Außenseite blieb die Kellerwand unverputzt und wurde auch nicht trockengelegt. Das Erdreich kam außen direkt dagegen. So hielten die Bruchsteine den Keller stets atmungsaktiv und etwas feucht, so dass sich die eingelagerten Kartoffeln und Rüben lange frisch hielten. Der Keller bot nun übers Jahr eine gleichbleibende Temperatur.

Aus dem Nachbarort wurde ein selbstständiger Maurermeister engagiert, der im Nebenerwerb auch Landwirtschaft betrieb. Er arbeitete als "Ein-Mann-Betrieb". Für Handlangertätigkeiten musste der Bauherr selbst Leute bereitstellen. So erledigten mein Vater und ich diese Hilfsarbeiten. Als Heranwachsender packte ich mit allen meinen Kräften an. Für den Mörtel wurden Sand, Zement und Brandkalk selbst angemischt. Der Kalk musste einen Tag vor den eigentlichen Maurerarbeiten in einer zwei mal drei Meter großen Blechwanne mit Wasser vermischt werden. Der Kalk wurde dabei ganz heiß. Über Nacht kühlte die Kalkmischung wieder ab, das nannte man "Kalk löschen". Am nächsten Tag wurde diese Brühe in einem separaten Mörtelbehälter mit Sand und Zement vermischt. Eine Mischmaschine war damals bei uns noch nicht vorhanden.

Stück für Stück gingen die Maurerarbeiten voran. Als die Kellermauern mit Bruchsteinen und Mörtel hochgezogen waren, konnte die Geschossdecke gelegt werden. Diese wurde nicht wie heute mit Fertigbeton gegossen, sondern mit T-Trägern und Bims hergestellt. Die Verwendung von Bims beim Legen der Etagendecke hatte den Vorteil, dass er sehr leicht, schalldicht und wärmedämmend ist. Es musste allerdings "gewaschener Bims" sein. Das ist Bims, der zuvor industriell von Erdreich und Steinen getrennt worden ist. Die Decke musste einige Wochen trocknen, um die gewünschte Stabilität zu erreichen.

Nun wurden die Mauern mit Bimshohlblock-steinen und Bimsbauplatten errichtet. Ab dem ersten Stockwerk wurden die Arbeiten schwieriger, da man alles mit Muskelkraft nach oben hieven musste. Über die Leiter schleppten mein Vater und ich alle Baumaterialien auf dem "Buckel" (Rücken) hoch, sowohl die Steine als auch den "Speis" (Mörtel). Der Mörtel wurde unten im Hof zubereitet und in einen sogenannten "Speis-Vurrel" (Mörtel-"Vogel") gefüllt - ein 80 cm langer und 20 cm breiter sowie tiefer Blechbehälter. Gefüllt war er sehr schwer und wurde auf der Schulter die Leiter hoch zum Maurer getragen und dort von der Schulter aus nach vorne in einen Bottich ausgekippt.

Für das Aufstellen des Dachstuhls engagierten wir einen Zimmermann. Da es damals auf dem Land keinen Baukran gab, wurden alle Balken mit Stricken von Menschenhand hochgezogen. Der Zimmermann schlug dann das Gebälk auf. Bei der Verbretterung desselben konnten wir Geld sparen, in dem mein Vater und ich das selbst erledigten. Dies war ziemlich gefährlich, da damals nichts eingerüstet wurde und an die Arbeitssicherung noch nicht so gedacht wurde wie heute.

Das Dach wurde schließlich mit Schiefer eingedeckt. In unserem Fall war das Kunstschiefer.

Naturschiefer war unbezahlbar, denn er wurde aufwendig unter Tage abgebaut. Mit dem Einbau der Fenster und der Haustür wurde ein Schreiner beauftragt. Für die Holztreppe hatten meine Eltern Eichenstammholz im Gemeindewald gekauft, welches sehr schwer war, und wir zu Dritt unter gefährlichen Bedingungen auf das Pferdefuhrwerk verluden, um es ins Sägewerk zu transportieren. Ein Schreiner baute dann aus den Brettern eine Treppe mit einem Handlauf. Elektriker und Installateure wurden für den Rohbau beauftragt. Natürlich erhielt das Haus auch ein Badezimmer sowie eine Toilette. Die neue Wohnküche wurde mit einer Küchenzeile bestückt. Meine Mutter nähte die Gardinen für alle Fenster selbst. Für das neue Wohnzimmer kauften meine Eltern puristische Hochglanzmöbel: einen Vitrinenschrank, ein Sofa mit Sesseln in lindgrün und einen passenden Sofatisch sowie ein Beistelltischchen - alles im Stil der 1960-er Jahre. Vier Generationen meiner Familie profitierten von dem Anbau, in dem das Haus, zumindest für einen Teil ihres Lebens, das "Zuhause" bedeutete.