Wirtschaftswunder und Toast Hawaii

- aus der Sicht eines damaligen Teenagers

Anita Becker, Daun

Von wegen Wirtschaftswunder! Davon merkten wir nicht allzu viel. 1951, also 6 Jahre nach Kriegsende, gab es in Daun endlich eine weiterführende Schule, die Handelsschule. Die Gymnasien kamen erst später. Ohne Schulbildung keine Teilhabe am Wirtschaftswunder! Viele meiner Jahrgänger(innen) haben diese Möglichkeit genutzt. Für die Schüler aus den umliegenden Dörfern war das gar nicht so einfach. Sehr früh begann der Unterricht der Handelsschule und richtete sich nach den Fahrzeiten der Bahn.

Ja, damals gab es noch einen Bahnhof in Daun, der das ganze Jahr über in Betrieb war. Heute findet der Bahnbetrieb nur im Sommer statt und auch nur stundenweise.

Einer meiner Mitschüler hatte damals eine Sondergenehmigung, mit dem Motorrad von Deudesfeld nach Daun in die Handelsschule zu kommen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Er war erst 14 oder 15. Leider kannte man damals noch keine Nierengurte und er sagte mir vor einigen Jahren, dass er sich seine

Nieren durch diese Fahrten im Winter ruiniert habe.

Die ersten Anzeichen, dass es nach dem Krieg endlich wieder aufwärts ging, waren bei der Feier der Wiedererlangung der Dauner Stadtrechte 1951. Wir waren alle voller Hoffnung, dass es jetzt trotz Besatzung aufwärts geht. Wir verstanden uns aber mit unseren französischen Freunden sehr gut. Bis heute ist mir die Liebe zu dieser Sprache geblieben.

Wir konnten so ziemlich alles kaufen, wenn wir das nötige Geld dazu hatten. Ein Fernseher stand ein paar Jahre später meist bei irgendeiner Familie, die ihre Pforten für alle Freunde öffnete. Ich kann mich aber auch erinnern, dass 1954/55 eine Kollegin in Köln, wo ich inzwischen arbeitete, morgens schon schlecht gelaunt in den Betrieb kam, weil sie den ganzen Abend ihre Bekannten, die sich zahlreich einfanden, bewirtete. Meine erste Fernseherfahrung war die Hochzeit von Grace Kelly mit Fürst Rainier von Monaco. Das war Romantik pur. Meine Chefin in Köln hatte einen Fernseher, weil sie die Programme beurteilen sollte. Und so kam ich ab und zu auch in den Genuss fernzusehen. In Deutschland hatte ich kein eigenes TV-Gerät und in Südafrika, wohin ich 1960 auswanderte, gab es erst Fernsehen ab 1976. Also habe ich quasi die ersten fast 40 Jahre meines Lebens ohne Fernsehen verbracht, trotz Wirtschaftswunders!

Zwischen 1950 und 1954 gab es in Daun ein großes Sportfest, an das ich mich noch gerne erinnere. Wir durften mit knielangen Röcken beim Auftakt mit marschieren. Die Generation über uns war entsetzt darüber. Die Röcke waren zu kurz!

1954 war die Handelsschule mit Abschluss beendet und ich bewarb mich um eine Stelle, die in der Zeitung annonciert war. Sofort konnte ich in Köln anfangen. So ist das mein ganzes Arbeitsleben geblieben. Nie musste ich mich mehr als einmal um eine Stelle bewerben. Da kann man wirklich mit den heutigen Jugendlichen und auch den über 50-Jährigen mitfühlen, die sich oft zigmal bewerben müssen, um etwas Passendes zu finden. Das ist das heutige "Wirtschaftswunder".

Die 50er Jahre waren eine Zeit, die wir, die Kriegsgeneration und die Generation unserer Eltern sehr dankbar genießen konnten. Wir hatten vorher nichts anderes als Krieg und Entbehrungen gekannt. Aber "Toast Hawaii", nein - den hatten wir auch in den Fünfzigern nicht.

Erst nach 1976 und meiner Rückkehr nach Deutschland konnte ich dieses Gericht kennen und lieben lernen; genauso wie Pizza Hawaii. Hm - lecker! Apropos Pizza, diese kam erst in den 50er Jahren mit den italienischen Einwanderern zu uns. Viele Deutsche fuhren mit dem Motorrad zum Zelten nach Italien und waren Feuer und Flamme für die italienischen Gerichte und den Chiantiwein, weniger für die hygienischen Bedingungen am Campingplatz. Fast jeder hatte einen kleinen Chiantiweinkorb in der Wohnung hängen, auch ich, obwohl ich nie diesen Wein probieren konnte. Ein Teil des Wirtschaftswunders waren auch die TanteEmma-Läden. Man konnte endlich wieder alles kaufen, nachdem wir die Währungsreform gut hinter uns brachten. Auch in den kleinsten Dörfern waren Geschäfte bis ... ja bis die SB-Märkte kamen und viele Menschen auch Autos besaßen. Man fuhr lieber am Wochenende mit der ganzen Familie einkaufen zum Schnäppchenpreis. Die älteren Menschen in den Dörfern trauern ganz sicher den kleinen Lädchen nach, aber mit den paar Dingen, die dort noch gekauft wurden, konnte man kein Geschäft halten.

Könnte es heute nochmals ein Wirtschaftswunder geben?

Ja, ich glaube schon, wenn wir die richtigen Menschen in den richtigen Positionen hätten. Ich kann es nicht begreifen, warum so viele qualifizierte Menschen arbeitslos sind, während man niemanden finden kann, wenn man jemanden für kleinere Reparaturen usw. benötigt. Nach dem Krieg hieß es Trümmer beseitigen, Häuser aufbauen. Da dachte niemand an Streiken, weil der Lohn zu niedrig war! Wie sah es z. B. in Köln aus, als ich 1954 dorthin zog? Unsere Büroräume waren renoviert. Wir konnten also gut arbeiten. Aber die Häuser ringsum!! Dort wohnten Menschen im Keller, wobei der obere Teil des Hauses in Trümmern lag. Ich selbst wohnte hinter einem Bombentrichter. Der vordere Teil des Hauses war zerstört, dahinter wohnten auf mehreren Etagen Familien. Mit der Arbeit im Büro war ich nicht am Ziel meiner Berufswünsche. So erfuhr ich von einer Privathandelsschule, die auch Lehrer ausbilden durfte, die bei der Regierung in Köln und Düsseldorf eine staatliche Fachlehrerprüfung ablegen konnten. Natürlich war das alles nebenberuflich. Tagsüber arbeiten, abends zur Schule (und selbst kostenlos unterrichten, damit die Kosten für die Ausbildung nicht zu hoch waren), am Samstag Seminar. Nach der Prüfung wartete schon eine Handelsschule auf die Lehrer(innen). Für mich wird das nächste Wirtschaftswunder sein, wenn die heutige Generation wieder Arbeit findet und auch bereit ist, etwas mehr zu tun. Und vor allem mit einem bescheidenen Leben zufrieden ist. Übrigens: Zufriedenheit mit dem, was man hat, ist sehr wichtig und vielleicht

das größte Wirtschaftswunder. - Auch ohne Toast Hawaii!