Meine Theaterkarte aus Schafwolle

Annemarie Folgnandt †

Die frohe Nachricht, dass Gerolstein 1953 die Stadtrechte wieder erhalten sollte, löste einen grandiosen Schub von Ideen, Energie und Eifer im Ort aus, um diese Ehre auch gebührend zu feiern. Unsere alte Sage "Der Speerwurf' sollte der Brockscheider Klaus Mark eigens dafür in ein Theaterstück verfassen Es war geplant, dieses am Platz des Geschehens, hoch oben auf der Löwenburg vorzuführen. Hierfür wurden Schauspieler gesucht, eifrig Kostüme genäht und viele andere Requisiten hergestellt.

Als die erste Probe stattfand, kletterte ich als Dreizehnjährige von unserem Bungertgarten zur Burg hoch, um wenigsten eine Probe sehen zu können. Denn wir hätten uns damals Eintrittskarten für das Schauspiel nicht leisten können. Bald warben überall die Plakate für die Uraufführung am 06. Juni 1953. Ich konnte nun nicht mehr unbemerkt von unserem Garten hoch zur Burg, denn oben wäre ich in dem Bereich gelandet, wo die Schauspieler geschminkt wurden und auf ihre Auftritte warteten. Also blieb mir nur mehr das Betrachten der einladenden Plakate. Plötzlich tat sich eine ungeahnte neue Möglichkeit auf, man suchte dringend einen weiteren Statisten, und zwar ein Schaf. Wir hatten ja Susi im Stall, ein hübsches kleines weißes Schaf. Ich machte mich total aufgeregt mit ihm an der Leine auf den Weg, um es bei der letzten Probe auf der Burg anzubieten. Susi wurde akzeptiert und ich gleich mit! Ich erhielt eine schriftliche Bescheinigung, unentgeltlich bei jeder Vorführung dabei zu sein. Schaf Susi musste pünktlich zur Burg gebracht und wieder mit nach Hause genommen werden. Aber ich hatte bei aller Lobpreisung unseres Tieres vergessen, zu erwähnen, dass Susi auch sehr bockig sein konnte. Darum saß ich mit heißen Ohren bei der Uraufführung dabei, die bei schönstem Wetter begann. Die Schauspieler verkörperten ihre Rollen derart gut, dass man sich alsbald ins Mittelalter versetzt fühlte. Und Susi? Ich ließ sie keinen Moment aus den Augen, achtete besonders auf ihr Hinterteil, denn hätte sie etwas hinter sich fallen lassen, und damit an völlig unpassender Stelle plötzlich Lacher hervorgerufen, wäre es das sofortige Aus für Susi und mich gewesen. Nachdem der begeisterte Beifall am Ende der Aufführung verebbt war, löste sich auch meine Anspannung, und ich ging mit Susi überglücklich heim. Gewiss hatten damals die wenigsten Gerolsteiner das Glück, das Theaterstück zweimal zu sehen. Aber ich! Ich durfte mit meiner wollenen Theaterkarte Susi bei jeder Aufführung dabei sein.