Tante Klopritz, unsere adoptierte Oma

Helene Dümmer, Hillesheim

Im Kriegsjahr 1943 erkrankte unsere Mutter derart schwer, dass sie Wochen lang im Krankenhaus zu Gerolstein behandelt werden musste. In den damaligen Kriegsjahren verfügte man weder über ausreichend Medikamente noch über therapeutische Maßnahmen, die heutigen Patienten den Genesungsprozess beschleunigen. Doch der Chefarzt Dr. Luy und die Ordensfrauen der Waldbreitbacher Franziskanerinnen bemühten sich trotzdem sehr intensiv um die Gesundung unserer Mutter, wussten sie doch, wie sehr sie daheim ihren sechs Kindern und in dem großen Geschäftshaushalt fehlte. Heute würde man meine Mutter ungeniert als Familien-Managerin bezeichnen, damals war der Begriff noch nicht geprägt.

Als meine Mutter, zunächst zögerlich und dann immer interessierter mit ihrer sympathischen Mitpatientin ins Gespräch kam, denn sie merkte an deren Sprechweise und Umgangsformen, dass sie es mit einer Dame zu tun hatte, offenbarte diese immer mehr über die kürzlich erfolgten Schicksalsschläge. Frau Klopritz war in ihrer Heimatstadt Hannover ausgebombt worden. Doch hatte sie das Glück, bei ihrem Sohn, der als Steward zur See fuhr, Unterschlupf in Hamburg in dessen Wohnung zu finden. Jedoch hielt dieses Glück nur bis zum nächsten großen Bombenangriff auf die Stadt, bei der auch die Wohnung des Sohnes zerstört wurde.

Über dieses zweimalige Ausbomben erfuhr ihre Cousine, Fräulein Schott, damals Lehrerin in Jünkerath-Glaadt, die lud sie zu sich in die noch sichere Eifel ein.

Frau Klopritz war dankbar aber auch glücklich, denn die beiden Damen verstanden sich gut und planten zusammen in der heilen Eifel das Kriegsende abzuwarten, um dann, wenn Ruhe und Frieden wieder eingekehrt seien, neue Pläne zu schmieden. Doch wieder schlug erbarmungslos das Schicksal zu, denn während eines Besuches bei Verwandten in Saarbrücken kam Fräulein Schott bei einem Bombenangriff ums Leben. Weil Frau Klopritz in meiner Mutter eine interessierte Zuhörerin fand, erzählte sie in den nächsten Tagen immer mehr aus ihrem Leben. In Hannover geboren und aufgewachsen, war sie mit 16 Jahren an den Hof nach Weimar gekommen. Dort erhielt sie eine hervorragende Ausbildung, auch in feinem Benehmen, im Schneidern und Frisieren. Weil sich ihre Intelligenz, ihr sorgfältiges und umsichtiges Arbeiten herumsprach, stieg sie bald auf zur Kammerzofe und begleitete ihre Herrschaft in dieser Funktion sogar auf weiten Reisen. Für eine junge Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das wahrlich eine Karriere! Nun aber hatte der Krieg mehrfach hart

zugeschlagen, dass sie, die schon viele Jahre verwitwet war, nicht wusste, wohin sie nach diesem Krankenhausaufenthalt gehen sollte. Beim nächsten Besuch konnte Mutter meinem Vater unter vier Augen das Schicksal ihrer Zimmernachbarin schildern. Die Eltern besprachen sich, und da in unserem Hause die Gastfreundschaft von Herzen kam, boten sie der Dame ab sofort eine Unterkunft an, und zwar mit vollem Familienanschluss. Zunächst besuchte Frau Klopritz uns mehrmals, um alle kennen zu lernen. Wir Kinder staunten aufrichtig über die fein gekleidete, hoch gewachsene 65-jährige Dame, die kein bisschen Ähnlichkeit aufwies mit unseren Großmüttern, die im Nachbarort lebten und uns gerne und oft besuchten. Um diese feine Dame nicht zu verletzen, hielten die Eltern uns an, sie mit "Tante Klopritz" anzusprechen. Beim ersten Besuch brachte sie uns einen Ball mit, einen echten, der auch beim Aufprall hoch sprang. Bisher spielten wir, kriegsbedingt, doch nur mit Wollbällen ohne jegliche Springfähigkeit, die unsere Großmütter aber liebevoll für uns aus Resten gefertigt hatten.

Dass unser Gast evangelisch war, hatten Vater wie Mutter wohl bedacht. Aber da wir Kinder in einer katholischen Gemeinde aufwuchsen, begegneten uns kaum jemals Andersgläubige, und so stellte sich unsere sechsjährige Schwester Gertrud vor die Besucherin, betrachtete sie von Kopf bis Fuß eingehend und meinte: "Ah, so sehen Evangelische aus!" Diese kindliche Bemerkung veranlasste die Eltern, alsbald den Damen der Evangelischen Diaspora-Gemeinde in Jünkerath unsere Tante Klopritz vorzustellen. Sie wurde mit großer Herzlichkeit in den Frauenkreis aufgenommen und dort geachtet und geehrt bis ins hohe Alter.

Nach ihrem Einzug in unsere Familie überraschte sie uns alle mit ihren vielfältigen Ideen und einer ausgesprochenen Lebenstüchtigkeit, die in dieser harten Zeit so wichtig war. Sie unterstützte die Mutter bei der Auswahl und Anleitung des Hauspersonals, brachte uns älteren Mädchen Stricken und Sticken bei, las während solcher Aktionen Märchen und Sagen vor oder beaufsichtigte vom Gartenhäuschen her unsere Spiele im Freien. Wir schenkten ihr unser ganzes Vertrauen und liebten sie besonders, wenn sie uns die schwierigsten Zungenbrecher beibrachte, ein Unterfangen, das uns während des Übens viel Spaß machte und ein wohliges Glücksgefühl, wenn sie uns endlich glatt von der Zunge gingen. Ihr gutes Deutsch, ihre feine Ausdrucksweise übertrug sich allmählich auf uns Kinder. Ein deutlich besseres Hochdeutsch belohnten die Lehrer uns mit besseren Noten. Vormittags fertigte sie oft aus aufgetrennten Stoffen neue und ganz entzückende Kleidung für die jüngeren Geschwister.

Sie wirkte in unserer Mitte glücklich und zufrieden, und als wir evakuiert wurden, zog sie auch mit uns nach Bodenbach. Die Eltern nahmen aber mit wachsender Sorge ihren unausgesprochenen Kummer wahr, denn von ihrem Sohn erhielt sie nie einen Brief. Insgeheim ahnten alle das Schlimmste. Erst nach Kriegsende erhielt sie die traurige Nachricht vom Tode ihres Sohnes. Das Schiff, auf dem er zuletzt diente, war von russischen Torpedos getroffen in der Ostsee gesunken. Weder die vielen ostpreußischen Flüchtlinge an Bord, noch die Besatzung des Schiffes hatten eine Überlebens-Chance gehabt. Die Trauer der Erwachsenen übertrug sich auf uns Kinder. Wir trauerten ängstlich mit ihr, vermuteten wir doch, dass sie nun die Entscheidung treffen müsse, ob sie weiterhin bei uns als Oma ihren Lebensabend verbringen würde oder in eine größere Stadt fortziehen wollte. Denn diese verehrungswürdige, liebenswerte Dame, unsere "Tante Klopritz" war nun so eng mit uns verbunden, dass sich bis heute noch alle in unserer Familie mit großer Dankbarkeit an sie erinnern.

Die Frage damals, ob sie blieb oder ging, hing nun schon tagelang in der Luft und verdarb uns Kindern das muntere Spiel. Als dann alle Familienmitglieder beim Abendbrot versammelt waren, blickte sie in die Runde und sagte, dass sie nach reichlichem Abwägen zu einem Entschluss gekommen sei. Dann sagte sie lächelnd in die fragenden Kinderaugen schauend: "Ich werde bei Euch bleiben!" Wir sprangen erleichtert auf, stürmisch umarmten wir sie und versprachen im

Überschwang der Freude spontan, untereinander nicht mehr so oft zu streiten. Ihre Reaktion darauf: "I gitt, Streiten, das macht man doch nicht!", klingt uns heute noch im Ohr! Als ich 1946 in der Dorfschule zu Lissendorf eingeschult wurde, gab es dort zwei getrennte Klassenräume für Knaben und Mädchen. In jedem Raum wurden die Schüler vom 1. Schuljahr bis zur 8. Klasse, acht Jahre lang gemeinsam unterrichtet. Das Engagement der Lehrer muss sehr leidenschaftlich gewesen sein, denn trotz der harten Bedingungen wurde den Kindern das benötigte Grundwissen vermittelt, mit dem sie sich später im Berufsleben gut durchsetzen konnten. Meine schulische Erstausstattung bestand aus einem gebrauchten Ranzen, einer Schiefertafel mit Griffel und Läppchen. Eine Fibel kannten wir noch nicht. Bald machte mir die Schule aber immer weniger Spaß. Mitschüler verlachten mich wegen meiner Ungeschicklichkeit beim Schreiben. Nach ihrem wohlverdienten Mittagsschläfchen blickte Tante Klopritz gerne über unsere Hausaufgaben und erfasste zielgenau die Ursache meines Problems. Wenn nun die älteren Geschwister im Dorf zum Spielen fort waren, übte sie mit mir das Schreiben, nicht mit lustigen Buntstiften, nein, die gab es damals nicht, nicht mal auf Papier, das war ja eine Mangelware. Sie hatte wieder mal einen ihrer phantastischen Einfälle, die uns Kinder so mitreißen konnten, sie half mir mittels immer dünner werdenden Stöckchen beim Schreiben der Buchstaben ....in den Bausand, von dem reichlich auf unserem Hof lag.

Meine Fingerfertigkeit verbesserte sich derart, dass ich bald in der Lage war, auf der Tafel so sauber zu schreiben, dass die vorgehende Zeile nicht mehr verwischt wurde. Dann war es kurz vor der Währungsreform, als Tante Klopritz ein erstes Lebenszeichen von ihren Verwandten erhielt. Zwei Nichten aus Hannover war es nach intensiven Nachforschungen jetzt endlich gelungen, den Wohnsitz ihrer Tante ausfindig zu machen. Sie war nach dem Lesen dieses Briefes so glücklich, sie schickte sofort eines der Kinder zum Bäcker, um Teilchen zu kaufen, damit das Ereignis gebührend gefeiert wurde. Denn die Nichten hatten sie auch noch zur Sommerfrische nach Hannover eingeladen. Das Wiedersehen, auch mit Bekannten und Freunden von früher, schilderte sie uns später als unbeschreiblich bewegend und schön. In den folgenden Jahren wurde ihr Urlaub in Hannover zur guten Tradition bis ins hohe Alter. Immer, wenn sie zu uns zurückkehrte, war auch hier die Wiedersehensfreude riesengroß. Wir alle erwarteten sie geschlossen auf dem Bahnsteig, und sie war immer sehr glücklich und beeindruckt von unserem herzlichen Empfang. Sie brachte uns auch kleine Geschenke mit, Dinge, die in der Stadt schon erhältlich waren, aber auf dem Land noch nicht angeboten wurden. Mit 83 Jahren erschien ihr die Hannover-Reise zu beschwerlich. Jetzt las sie noch intensiver in ihren geliebten Illustrierten. Als nach dem Krieg solche Zeitschriften wieder erschienen, erregte sie ungewollt Aufsehen im Dorf, denn sie tat etwas für viele Bewohner "Unerhörtes", sie war die erste Frau, die diese Zeitschriften im Abo bezog. Weil sie gerne teilte, reichte sie die ausgelesenen Exemplare weiter. Nach einiger Zeit bat man sie sogar darum. Als die heranwachsenden Kinder Internatsschulen im Bonner Raum besuchten, wurde es ruhiger in unserem Haushalt. Damals gab es doch nur als Pro-Gymnasium, das St. Matthias-Gymnasium in Gerolstein, und Mädchen als Fahrschülerinnen passten überhaupt nicht in die pädagogische Vorstellung der Eltern. Abwechselnd begleiteten wir immer noch Tante Klopritz auf kleinen Spaziergängen und freuten uns mit ihr, wenn die Nachbarn ihren aufrechten Gang bestaunten. Manchmal duldete sie auch, dass wir ihr etwas vorlasen oder ihr bei Kreuzworträtseln halfen. Besonders genoss sie im Alter die Kinobesuche in Jünkerath. Dafür wurden ihre Haare frisch onduliert.

Sie blieb geistig und körperlich gesund bis ins 86. Lebensjahr. Dann klagte sie eines Tages über heftiges Unwohlsein. Die Eltern brachten sie ins Gerolsteiner Krankenhaus, wo sie sich einer Operation unterziehen musste. Doch sie erholte sich nicht mehr davon. Sie verstarb kurz danach in Mutters Armen. Ihr Lebenskreis hatte sich geschlossen, genau an der Stelle, wo die Freundschaft mit unserer Familie begann.