"Schmitz, lese deinen Aufsatz vor!"

Josef Schmitz, Üdersdorf

Dieser Satz erinnert mich oft und gerne an meine Schulzeit. Ich besuchte die Volksschule in Udersdorf von 1936 bis 1944. Mein Banknachbar war während der gesamten Schulzeit Heinrich Müller, besser bekannt als "Heini" oder auch "Schul Henrich". Wenn wir als Hausaufgabe Aufsätze verfassen sollten, die dann vor der gesamten Klasse vorgelesen wurden, kamen wir aber nie zum Vorlesen. Egal, wie oft wir uns meldeten, der Lehrer schien uns vergessen zu haben. Wir beide meinten daher, es wäre Zeitverschwendung und zudem unnötig, einen Aufsatz zu schreiben. So beschlossen wir, unsere schriftstellerischen Fähigkeiten einzustellen und keinen Aufsatz mehr zu schreiben. Sollten wir aber dennoch wider Erwarten einmal zum Vorlesen aufgefordert werden, dann würden wir aus dem leeren Heft in etwa das vorlesen, was wir vielleicht geschrieben hätten.

Wie der Zufall es wollte, eines Tages war dieser Satz zu hören: "Schmitz, lese deinen Aufsatz vor!" Ich trat neben meine Schulbank, ein bisschen schräg stehend und das Heft nur halb geöffnet, damit meine Banknachbarn nicht zu leicht in mein Heft mit den unschuldig weißen Seiten schauen konnten. Dann las ich, meiner Phantasie freien Lauf lassend, aus dem leeren Heft vor. Im Unterbewusstsein die Zeit abschätzend, blätterte ich gewissenhaft die nächste Seite um. Nach wenigen Minuten, nachdem mein gedachter Aufsatz und mein Wissen endeten, schlug ich mein Heft zu, in der Hoffnung, dass alles gut gegangen sei, und bereit, ein Lob zu empfangen.

Unser Lehrer, Herr Bruno Reyer, war ein guter Menschen-, aber ein noch besserer Kinderkenner. So hatte er sicherlich bemerkt, dass ich nicht zügig genug gelesen hatte, und sagte zu mir: "Bring deinen Aufsatz nach vorn zum Pult".

Ich ging, die Dinge, die da kommen sollten abwartend und mich auf eine saftige Tracht Prügel einstellend, nach vorn und legte dem Lehrer mein leeres Heft vor. Der blätterte ein paar Seiten um, vorwärts und rückwärts, - das Heft war leer. Währenddessen stand ich da, schuldbewusst, mein erhöhter Puls raste, das Herz klopfte. Nach einer Weile schlug Lehrer Reyer das Heft zu, gab es mir und sagte: "Das war gut!"

Er hat nicht mehr und nicht weniger gesagt. Keine Strafe, kein Tadel! Niemand in der Klasse merkte und erfuhr etwas von meinem leeren Heft und dem unsichtbaren Aufsatz. Nur Lehrer Reyer, Heinrich Müller und ich. Wir haben lange dicht gehalten, uns aber später durch unsere eigene Dummheit verraten. Jener Lehrer Reyer, ein guter Pädagoge, kam aus Danzig und war vierzig Jahre alt. Seine Frau Mila war genau um die Hälfte jünger und kam aus Königsberg. Es war ein beliebtes Lehrerehepaar, wenn auch der Altersunterschied für diese Zeit noch zu groß war. Für mich aber bleiben die Beiden unvergesslich, als Beweis, dass es neben strafenden Lehrern auch viele gibt, die tiefes und verzeihendes Verständnis für Kinder haben.