O Här, stand mir bej

Dr. Erich Mertes, Wittlich

Mit großer Zuneigung erinnere ich mich an meine Gerolsteiner Großmutter Elisabeth, eine der starken Eifelerinnen, geprägt von harter Arbeit, Krieg und Notzeit. Seit meinem 75. Geburtstag nutze ich hin und wieder ihr Stoßgebet, das ich als Kind von ihr, mal geflüstert, mal im Aufstöhnen mit kurz geschlossenen Augen hörte: "O Här, stand mir bej!" Ob unser Herrgott auf Moselfränkisch eher zu erreichen ist? Ich vermute, das erste Mal wird die junge Elisabeth es inständig gebetet haben, als sie den Witwer ihrer verstorbenen Schwester heiratete, der einen arbeitsintensiven Bauernbetrieb und drei kleine Kinder in die Ehe mitbrachte. Sie wohnten nur einen Steinwurf von der Kirche entfernt, und im Geiste sehe ich sie, wenn sich unter ihrer Arbeitsschürze wieder einmal die Wölbung einer Schwangerschaft abzeichnete zur Kirche eilen, um am Portal mit Blick auf den Altar ihr Gebet zu verrichten: "O Här stand mir bej!".

Und dessen Beistand wurde immer dringlicher nötig, denn Elisabeth brachte acht Kinder zur Welt. Elf Sprösslinge saßen nun um den Tisch, die auch schulisch ausgebildet werden mussten. Durch einen Eisenbahnunfall verloren sie einen 18-jährigen Sohn. Als ihr Mann starb, stand Elisabeth ganz allein in all der Verantwortung. Im Januar 1945, beim Bombenangriff auf Gerolstein, kam im Eisenbahnstollen eine eben erst verheiratete Tochter ums Leben. "O Här stand mir bej!" muss Elisabeth gestöhnt haben, während sie mit Hilfe eines Schreinerlehrlings eine sargähnliche Kiste zimmerte. Da hinein bettete sie Gretchen, die dann mit den andern fünfzig Toten aus dem halbfertigen Stollen in ein von Kriegsgefangenen ausgehobenes Massengrab auf den Ehrenfriedhof kamen. Zupacken hieß es von jeher für Elisabeth, besonders aber nun, direkt nach dem Krieg. Es gab keine Zeit zum Trauern, das Haus musste in einen bewohnbaren Zustand gebracht werden, für sie selbst und drei ihrer unverheirateten Töchter. Eine vierte war seit den Bombenangriffen mit ihren vier Kindern hinzugekommen, deren Mann, wenn er überhaupt noch lebte, jetzt vermutlich in Kriegsgefangenschaft war. Nun litt Gerolstein unter der französischen Besatzung. Die französische Fahne musste gegrüßt werden. Zunächst aber musste sich jeder beim Arbeitsamt einfinden, zur Abnahme von Fingerabdrücken. Der Pass, der daraufhin ausgestellt wurde, war stets bei sich zu tragen, und niemand durfte seinen Wohnort verlassen. In Gerolstein war es zunächst nicht einmal ohne weitere schriftliche Erlaubnis möglich, die Kyll zu überqueren, um auf die "andere Seite" zu gelangen. Die besten der noch unzerstörten Wohnungen wie auch das schönste noch vorhandene Mobiliar waren bereits beschlagnahmt worden für französische Offiziere, für Büros oder für deren Familien. Wälder wurden jetzt zum großen Teil abgeholzt, das Holz nach Frankreich verschickt, wie die in den Betrieben beschlagnahmten Maschinen. Auch Vieh wurde beschlagnahmt. Darum gab es so oft diese akribischen Viehzählungen. Zwar hatte die französische Verwaltung gut beleumundete Deutsche als Viehzähler eingesetzt, aber sie überprüften diese in unregelmäßigen Abständen doch lieber selbst. Die vorgeschriebenen Abgaben und die Beschlagnahmungen waren eine besonders harte Bürde, denn man darf nicht vergessen, wie sehr Gerolstein durch die Bombenangriffe zerstört war. Großmutter Elisabeth erzählte uns Enkeln später, wie das damals im Frühjahr 1946 war. Wenige Tage zuvor erst hatte sie den Viehzähler, einen rechtschaffenen Eifeler aus Salm, noch auf seinem Gang durch den Stall begleitet, und weil alles stimmte, fühlte sie sich einigermaßen beruhigt, da hörte sie morgens früh beim Melken das ungute Motorengebrumm eines Lkw. Als der in der Nähe hielt, und sie laute Männerstimmen auf Französisch rufen hörte, sprang sie auf, dass der Melkschemel rückwärts schlug. Da waren die drei Uniformierten schon im Stall. "O Här, stand mir bej!" wird sie gemurmelt haben, als sie, voll Angst, doch aufrecht den Franzosen entgegenging. Achtlos gingen die an ihr vorbei, ihre Blicke auf die beiden Glankühe gerichtet, nickten zustimmend bei Frida, der jüngeren. Einer nahm ihre Kette aus dem Ring und zog sie mit sich fort. Ein anderer drückte im Vorbeigehen Elisabeth ein bedrucktes Stück Papier in die Hand, auf das er zuvor etwas gekritzelt hatte. Wie in einem Alptraum, muss sie an der Stalltür gestanden haben, von wo sie sah, wie sie Frida zum Lkw führten, auf dem schon eine andere Kuh stand. Über die heruntergelassene Klappe legten sie einen Holzsteg, über den sie das Tier zwangen, hochzusteigen. Frida muhte unaufhörlich und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Aufstieg. Ein Soldat schwang sich auf die Ladeplatte und riss sie an der Kette hoch, ein anderer drehte ihren Schwanz zum engen Kreis, sodass Frida aus lauter Pein vorangehen musste. Mit schmerzverdrehten Augen schaute sie noch einmal zurück zu Elisabeth. Dann startete der Lkw und fuhr davon. Herta, alleine im Stall, muhte laut und aufgeregt nach Frida, denn die war nicht nur ihre Stallnachbarin, sie war auch ihre Gespannhälfte an Wagen, Pflug und Egge.

Zwar werden die Milchabgaben jetzt zur Hälfte reduziert, aber wie viele muss ich jetzt abweisen, die um ein wenig Milch betteln, für Kleinkinder oder Kranke? Wie soll ich jetzt Kartoffeln, Rüben und Heu heimfahren, wie das Brennholz aus dem Wald in den Hof schaffen, ging es Elisabeth durch den Kopf, während sie im Garten ein Beet umgrub, bis an den Rand des Bombentrichters, der immer noch nicht gefüllt werden konnte. Frida's Beschlagnahmung, die sie als Kälbchen großgezogen hatte, beschäftigte sie tagsüber. Doch griff sie abends gewohnheitsgemäß nach den beiden Melkeimern, erinnerte sich, und ging mit einem zum Stall. Traurig nahm sie den Melkschemel vom Haken an der Wand, tätschelte Herta's Flanke und setzte sich auf das Holzstühlchen. Hier sah sie niemand, hier konnte sie, die Stirn gelehnt an die warme Seite ihrer Kuh, den Tränen endlich freien Lauf lassen. Sie erschrak. Bin ich schon derart durch die Mühle, dass ich Stimmen höre? Sie atmete tief durch und zwang sich zur Konzentration auf die Arbeit. Da! Wieder das gleiche Muhen! So deutlich war kein Hirngespinst! Als Elisabeth die Stalltür öffnete, stand Frida vor ihr, Kopf und eine Seite dunkel von getrocknetem Blut. Was war passiert? Elisabeth führte das Tier erst zum Kump, den Durst zu stillen. Während es gierig soff, untersuchte sie die blutbedeckten Stellen, konnte aber keine Wunde entdecken.

Großmutter erzählte später, wie sich glasklar ihre Gedanken zu einem festen Plan ordneten. Sie hatte die Abgabequittung der Franzosen in der Hand. Vor dem Viehzähler könnte man ein Huhn verstecken, aber keine Kuh. Erfahren die Franzosen durch die nächste Viehzählung, dass Frida auf irgendeine Weise wieder da ist, könnte sie selbst in bösen Verdacht geraten, an der Sache Schuld zu sein. Auf jeden Fall, würde man Frida ein zweites Mal beschlagnahmen! So leid es ihr tat, sie musste realistisch sein. Und genau so lief es dann ab: Der alte Hausmetzger erhielt Bescheid, sofort zu kommen. Elisabeth molk Frida ein letztes Mal. Dann wurde die Kuh in die Scheune gebracht

Als Erinnerung an Hof und Glankühe meiner Großmutter Elisabeth ließ ich mir von der Gerolsteiner Malerin Gertrud Becker dieses Bild malen.

und geschlachtet. Die Nacht hindurch arbeitete Elisabeth mit ihren vier Töchtern und dem Metzger. Als die Sonne aufging, lag über dem Bombentrichter in ihrem rückwärtigen Garten ebenerdig Mutterboden, sorgsam mit der Harke geglättet. Elisabeth konnte sich einer Bemerkung beim Erzählen dieser Geschichte nie enthalten, dass dies wohl die einzig nützliche amerikanische Bombe auf Gerolstein gewesen sei! Denn tief darunter, auf dem steinigen Trichtergrund lagen jetzt alle nicht verwertbaren Teile der Kuh, aber im Keller standen reihenweise Gläser mit eingekochtem Fleisch. Ein Viertel blieb mit einem Bettlaken gegen Fliegen geschützt an der kühlsten und dunkelsten Stelle der Scheune an einem Balken hängen. Dort konnten nach Bedarf Portionen abgeschnitten werden. Ein Teil lag in handlichen Paketen bereit zum Verteilen an Verwandte und Familien in Not. Ein Bratenstück, und zwar in Vorkriegsgröße, hatte Elisabeth schon für ihren größten Eisenbräter vorgesehen für das Mittagessen anderntags, woran sich die Helfer und alle im Haus nach Herzenslust einmal so richtig satt essen durften. Erst Jahre später erfuhr Elisabeth, dass der französische Lkw mit den beiden beschlagnahmten Kühen unterwegs in Richtung Hillesheim mit einem französischen Holzlaster kollidiert war. Während sich die Soldaten um eine schwer verletzte Kuh kümmerten und sie am Straßenrand notschlachteten, sei im totalen Chaos die andere davongerannt. Als Zugtier kannte Frida ja den Weg nach Haus.

Es gäbe noch viel mehr zu sagen über diese kluge Frau. Und, was ist so verkehrt daran, unseren Herrgott, der alles, auch uns Eifeler erschuf, in unserer Ursprache anzurufen: "O Här,stand mir bej!" Er lässt uns nicht im Stich.