Ein Büscheicher in Napoleons Armee

Irma Knötgen, Daun

Mein Büscheicher Elternhaus, „Holle" genannt, ist eins der ältesten Häuser im Dorf, erbaut als der Ort noch Eich hieß. In meiner Kindheit war es noch das erste Haus rechter Hand, wenn man von Gerolstein kam. Im letzten Krieg und danach, als Soldaten auf oft abenteuerliche Weise heimkehrten, erinnerte man sich hier noch an die tragische Geschichte jenes Büscheicher Soldaten, der zu Fuß aus Napoleons Spanienkrieg heimkam, dem aber seine Eltern die Haustür nicht öffneten, weil sie ihn nicht erkannten. Seinen Namen und aus welchem Haus er stammte, wusste man nicht mehr. Einzelheiten darüber erfuhr ich erst durch dessen Urenkel, den früheren Staatsekretär im Auswärtigen Amt, Dr. Alois Mertes, dem trotz seines hohen Amtes seine ländlichen Wurzeln sehr viel bedeuteten, der sein Leben lang eng verbunden blieb mit seiner Familie, seiner Eifelheimat und deren Sprache. Er schrieb mir am 29. Juni 1982 den nachfolgend aufgeführten Brief:

Sehr geehrte Frau Knötgen, beim gestrigen Empfang von Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel in Mehren versprach ich Ihnen, da Ihre Familie aus dem Haus „Holle" in Büscheich stammte, Folgendes schriftlich festzuhalten, was mein Vater mir aufgrund einer familieninternen Überlieferung berichtet hat. Der Vorgang scheint die Menschen ein Jahrhundert lang, ja noch länger, so bewegt zu haben, dass sie ihn immer wieder erzählten: Mein Vater war Michael Mertes, geboren 1878 in Büscheich, gestorben 1947 in Gerolstein, mein Großvater väterlicherseits war Anton Mertes, geboren 1827 in Büscheich, gestorben 1903 in Büscheich. Sein Vater, also mein Urgroßvater, hieß Lambert Mertes. Auch er war von Beruf, wie es damals in den Urkunden hieß, „Ackerer", also Landwirt. Des Lesens und Schreibens war er nicht kundig, wie die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, denn das Schulsystem entwickelte sich ja erst nach 1815. Er wurde geboren 1776 in Eich (dem später

von der preußischen Verwaltung endgültig so bezeichneten Büscheich; noch heute sagen wir im Raum Gerolstein: Eech). Er starb 1856 in Büscheich. Sein Enkel Lambert Mertes, Bruder meines Vaters, war mein Taufpate, so dass ich mit vollem Namen Alois Lambert Mertes heiße. Dieser Urgroßvater wurde wie viele junge Deutsche seiner Zeit während der französischen Besetzung und Annektion der Rheinlande gezwungen, in der Armee Napoleons in Spanien zu dienen. Nach Frankreichs Niederlage 1814 wanderte er mit einem Soldatenpass über Frankreich nach Hause. Dieser Pass blieb in der Familie noch lange erhalten, ging aber irgendwann verloren -schade. Darin standen die Meldevermerke der Bürgermeistereien in Spanien, Frankreich und Deutschland, bei denen sich die heimkehrenden Soldaten der Ordnung halber zu melden hatten, um dabei auch Unterkunft zugewiesen zu bekommen. Die Heimwanderung dauerte etwa ein Jahr.

Als der damals etwa 38-jährige Lambert Mertes („Trecke Lampert") sehr spät abends nach Hause zurückkehrte und seine Eltern um Einlass bat, erkannten diese ihn nicht. Sein Gesicht war ganz dunkel gebrannt und er trug einen Bart, er sah wohl ganz ungewohnt und etwas „wild" aus, so dass die Eltern (Johann Mertes, geboren 1743 in Birresborn, gestorben 1817 in Büscheich = mein Ururgroßvater) und seine Frau Katharina geborene Müller (1752-1822) es vielleicht mit der Angst zu tun bekamen. Darauf ging er am gleichen Abend noch zu seinem Freund - seinen Namen weiß ich nicht - im Hause „Holle" in Büscheich am Dorfeingang. Dieser - es war wohl einer ihrer Vorfahren - erkannte ihn und brachte ihn zu Lamberts Eltern, die ihren Sohn nach den Jahren der Wirren und Kriege und Ängste weinend in die Arme nahmen. Die Geschichte wurde in der Familie wohl deshalb weitergegeben, weil sie so ungewöhnlich und so rührend ist. Der Soldatenmantel Lamberts - de Fransuse-Keep - wurde noch

lange benutzt, wohl als Erinnerungsstück wie als kostenloses Kleidungsstück; die Eifel war damals sehr arm. Lambert Mertes heiratete am 30.1.1822 in Gerolstein Anna Gertrud Ha-rings aus Büscheich (1788-1841); Lamberts Mutter starb 2 Wochen nach der Hochzeit.

Mit den besten Grüßen und Wünschen Ihr Alois Mertes

Es scheint sicher jedem wie ein kleines Wunder, dass Lambert Mertes es schaffte, wieder nach Hause zu kommen, wenn er erfährt, dass von den 4,5 Millionen Männer die unter Napoleon eingezogen waren, in tatsächlichen Kämpfen etwa 150.000 starben. Die Mehrheit jedoch, 2,5 Millionen Männer, starben an Hunger oder durch Krankheiten, durch unversorgte Wunden, viele davon an purer Erschöpfung bereits auf dem Hinmarsch durch die endlosen Strapazen in die weit entfernten Kampfgebiete. Denn oftmals mussten sie bis zu 50 km am Tag zu Fuß schaffen, oft auf sich allein gestellt und den Naturgewalten ausgesetzt. Man wird nie mehr erfahren, ob der Büschei-cher in den unendlich grausamen Guerillakrieg hineingezogen wurde, den es erstmals in diesem Feldzug gab. Sein Rückweg muss auch ein ständiger Kampf ums Überleben gewesen sein, zumindest durch die vom Krieg verwüsteten Landstriche Spaniens, durch ausgebrannte Dörfer und durch Wälder, in denen räuberisches Gesindel auf der Lauer lag. Ob er alleine ging oder sich einer kleinen Gruppe anschloss, wird man auch nie mehr erfahren. Aber er hat es geschafft. Sein Ziel in diesem zwölf Monate währenden Rückmarsch war sein Elternhaus, vor dem er jetzt am späten Abend tief durchatmend steht und erschöpft aber glücklich und hoffnungsfroh an die Haustür klopft.

Die Mutter kommt ans Fenster, hebt die Gardine unten ein klein wenig, erschrickt, als sie einen bärtigen dunkelhäutigen Fremden erkennt. Was will der denn von uns? Ängstlich lässt sie die Gardine fallen, eilt auf Zehenspitzen zurück, flüstert ihrem Mann zu, ein Fremder, ein Schwarzer, komisch angezogen. Während sie flüstert, wird das Klopfen dringlicher. Erschrocken wechselt das Ehepaar Blicke. Was will der von uns? Der Vater zieht vorsichtig

die knarrende Küchentischschublade auf, wo die scharfen Messer liegen, bläst die Petroleumlampe aus, auf Zehenspitzen schleichen beide Richtung Fenster, spähen hinaus, sehen den Fremden sich umdrehen, der den Hof, den Heuwagen und die Nachbarhäuser genau zu inspizieren scheint. Sie wollen zurück zum Tisch, da klirren die kleinen Scheiben des Fensters vom heftigen Pochen, erstarrt halten sie inne. Jetzt tönt die raue Stimme: „Macht doch endlich auf!" Mit zusammengepressten Lippen schauen sie sich nur kopfschüttelnd an. Lambert wird das Herz weh, er beugt seinen Kopf. Er steht vor dem Elterhaus. Aber die Eltern? Das sind doch Fremde im Haus. Zwar steht hier noch Vaters Heuwagen und die Schubkarre, deren eiserne Reifen er selbst noch geschmiedet und aufgezogen hatte. Jetzt spürt er die volle Müdigkeit der letzten Anstrengung, denn das letzte Wegstück lief er. Noch vor der Dunkelheit wollte er daheim sein. Daheim? Er hat keins mehr. Niemand wird ihm noch einmal diese Tür öffnen. Er will jetzt zu seinem Freund, das ist von der Dorfmitte aus ja nicht mehr weit. Die neue unsichtbare drückt seine Schultern herunter, die Beine heben sich nur bleischwer zum nächsten Schritt. Alles ertragen, alles erduldet, um wieder heimzukommen und jetzt? Er wird sie nie mehr sehen, den Vater und die Mutter. An die alte zweiteilige Eichentür von „Holle" hämmert er so fest er kann und ruft mit lauter Stimme:1„Maacht Trecke Laampert op! Esch senn heem kunn!" Drinnen verstummen sie um den großen Küchentisch, sein Freund springt auf und schreit: „Laampert! Laam-pert!" rennt zur Haustür, reißt den Riegel fort und die Freunde umarmen sich unter Tränen.2 „Mir daachten dou wärs lang duud!" In der Küche wird der Heimkehrer freudig umringt und begrüßt, ihm wird ein Teller vom Haferbrei angeboten. Sein Mund ist derart trocken. Er will nichts essen, nur eine Kelle Wasser. Das wird ihm gleich aus dem Wassereimer geschöpft. Er kostet es, langsam, mit geschlossenen Augen, nein, es gibt kein köstlicheres Labsal auf der Welt für ihn als dieses Wasser, Wasser von daheim, aus dem Dorfbrunnen. Er genießt den leicht eisenhaltigen Nachgeschmack, nimmt eine zweite Kelle, während

er sie leert wappnet er sich für alles, und dann fragt er leise: „Watt ass da mat menger Motter on mengem Vatter?" Verwundert blicken ihn fast ein Dutzend Augenpaare an. „Holle Ihm" antwortet erstaunt: „4Watt soll da mat denne senn? De Morje sooch esch dej Vatter om Besch schaffe, on dej Motter wor de Kipphähnscher äm opraafe. Watt soll da annischderes senn? Se mooßen sesch ploore wie mir all. Jottsejdank, bass dou heemkunn on kannsen ewejle helefe!" Lamberts Augen beginnen zu strahlen, während die Zentnerlast von seinem Herzen fällt. Er schaut seinen Freund an und meint: 5„Dou jehs eweijle mat mir heem, alleen, meenen

esch, schaffen esch dat nett!" Und der Freund entzündet einen Fidibus im gemauerten Küchenherd für die Stalllaterne und leuchtet Lambert damit über die dunkle holprige Dorfstraße heim zu „Trecke".

Anmerkungen:

1 „Macht Trecke Lambert auf. Ich bin heim gekommen!"
2 „Wir dachten, du wärst schon lange tot!"
3 „Was ist denn mit meiner Mutter und meinem Vater?"
4 „Was soll denn mit denen sein? Heute Morgen sah ich deinen Vater im Wald schaffen und Deine Mutter sammelte Tannenzapfen. Was soll denn anders sein? Sie müssen sich plagen wie wir alle. Gott sei Dank bist Du heimgekommen und kannst ihnen jetzt helfen!"
5 „Du gehst jetzt mit mir heim, allein, glaube ich, schaffe ich das nicht!"