Broteckenkinder

Magdalena Müller-Koch, Remagen-Rolandseck

Um 1940 gab es im „Hinteren Flecken" in Gerolstein, dem so genannten „Brotecken", eine große Schar Kinder zwischen acht und zehn Jahren. Ich vermute, der letztere Name stammt von den beiden Bäckereien, die es in diesem Bereich gab. Die am Fuße der Bergstraße gehörte Herrn Frantz, bis er 1933 das „Cafe Heiligenstein" errichtete. Von da an übernahm sie Hans Wollwert, der aus Dasburg kam, und die andere Bäckerei, schräg gegenüber, im uralten, so genannten Maaken-Haus, betrieb Karl Clemens mit seinen drei Schwestern und einem Gesellen.

Wir „Broteckenkinder" warteten mit Ungeduld auf den Mai, um endlich wieder gemeinsam auf der Straße zu spielen. Es gab kaum Autos, die uns beim Ballwerfen, Seilchenspringen, Versteck- oder Klickerspielen hätten stören können.

Kaum waren die Aufgaben gemacht, und das ging jetzt sogar rasend schnell, wurden eilig die Rollschuhe mittels Schlüssel an den stabilsten hohen Schnürschuhen befestigt und hinaus ging's und ab, mitten über die Straße. Die Eisenrollen erzeugten dabei einen beachtlichen Lärm, der uns gefiel, er lockte weitere Jungen und Mädchen heraus. Heißa, ging das schnell! Am schönen alten Rathaus vorbei und dann, ab Hotel Heck, ging's bergab durch den Flecken bis zum Hindenburgplatz. Sehr zum Ärger derjenigen, die sich grade mal zu einem Mittagsschläfchen hingelegt hatten. Diese unsanft durch das „Brettern" der Rollschuhläufer aus der Ruhe gerissenen zeigten auch unverblümt ihre Verdrossenheit, indem sie schon mal mit einem „Kammerpott" drohten und den auch, vorsorglich bis oben gefüllt mit Wasser, unter lautem Schimpfen über uns schütteten. Das konnte unseren Spaß nur noch erhöhen. Und noch etwas erfüllte uns mit Freude, im Mai durften wir abends noch mal aus dem Haus, doch nur zur Maiandacht in die Kirche. Das Spielen draußen machte gehörig Durst. Nirgends in den Häusern standen irgendwel-

che Kästen mit Cola, Limo oder sonst süßen bunten Getränken. Wir löschten jeden Durst mit „Krahnenberger".

Wollten wir etwas Besseres trinken, packten wir ein paar leere Flaschen in Tasche oder Netz, liefen durchs „Märloch" und das „Mühlentor" runter zur „Trinkhalle" des „Gerolsteiner Sprudel". Dort füllte Herr Paffenholz uns die und zwar kostenlos. Das war unser „Haustrunk", der noch ganz köstlich mit „Friedels" Brausepulver in allerlei Geschmacksrichtungen von Zitrone bis Waldmeister veredelt werden konnte.

Kam im Juli die Beerenzeit, ging's mit Kannen, Eimerchen und Pflückgeschirr „In die Wol-pere", zum Waldbeerenpflücken. Gemeinsam mit den Nachbarskindern zogen wir über den Heiligenstein in die Moss. Dabei wurde auch manch schönes Wanderlied gesungen. Auf dem Heimweg fand sich in der Nähe des Cafes Heiligenstein auf dem Weg sogar noch hier und dort eine Versteinerung, die mitgenommen wurde. Heute sind einige dieser Exemplare mir in Remagen noch immer kostbare Erinnerungen an meine schöne „Broteckenzeit".

Die Brombeer- und Himbeerhecken erreichten wir über den „Bubbeldrees" Richtung Birresborn. Daraus kochten die Mütter leckere Konfitüren und Säfte. Letztere, über den sonntäglichen Vanillepudding geträufelt, eine wahre Köstlichkeit. Ja, der Sonntag war ein besonderer Tag in der Woche mit Sonntagskleidung, Sonntagsessen und Sonntagstätigkeiten, ganz wie im Lied besungen, der Sonntag war noch „der Tag des Herrn". Die Familie ging geschlossen zur hl. Messe, die Kinder besuchten nachmittags noch die Andacht und später folgte die Christenlehre. Heimgekehrt machte man sich auf zum Spaziergang mit den Eltern. Meist gingen wir über den Heiligenstein zur Büschkapelle, oder zur Dietzenley. Oft schlugen wir den Weg ein über die Hubertuskapelle, machten kurz einen Besuch auf

dem Ehrenfriedhof. Dann ging es am „Bor-reflooss" entlang und danach wanderten wir das letzte Stück über den schmalen roten Sandweg, umrahmt von alten Fichten, zur Büschkapelle. Ein anderer Spaziergang ging über die „Eselsbrücke" und die „Hustley" zum „Juddekirchhof, von dort manchmal Richtung „Papenkaule", oder entgegengesetzt nach Pelm zur „Kasselburg". Immer traf man unterwegs bekannte Familien mit Kindern. Man grüßte, plauderte ein wenig. Manchmal gab's auch im Restaurant Kasselburg zu unserem Glück ein Glas Sprudel für uns und einen Kaffee für die Eltern. Für mich war das immer etwas Besonderes, wenn mein Vater sagte, jetzt wird noch Rast gemacht. Kamen wir aus Richtung Büschkapelle, hieß das, es wird in der Burggaststätte von Horsche Pitter sein. Manchmal kehrten wir bei schönem Wetter auch im Cafe Heiligenstein ein.

Heute würde man dazu sagen „Open-air-Cafe". Dort fanden wir Kinder sogar Rutsche und Wippen. Schaukeln waren dort für die Großen und Kleinen. Es warteten auf uns Lauben im Wald mit Tischen und Bänken darin. Alles - wie das aus Birkenholz gefertigte Eingangsportal - hatte Herr Frantz selbst geplant, gebaut, gezimmert und eingerichtet. Hier servierten seine Töchter Leni und Therese frische Waffeln, herrliche Hefekuchen oder gar die feinen Mürbetörtchen, belegt mit aromatischen Erdbeeren aus Gerolsteiner Gärten. Mütter wanderten selbst wochentags dahin mit ihren großen und kleineren Kindern. Sie trafen sich dort mit anderen Frauen, handarbeiteten ein wenig und die Kleinen spielten gemeinsam den ganzen Nachmittag in der frischen Waldluft. Ein Waldkindergarten war es, wie aus dem Buch. Uns „Broteckenkindern" waren die Felsen im „Heiligenstein" die Ritterburgen unserer Kindheit. War wirklich einmal ein heißer Tag, wagten wir uns sogar in die Kyll. Die tiefste Stelle in der Nähe der Eselsbrücke heißt „Pärdskümpel". Betrachtet man sie heute, sieht man ihr nicht an, wie heiß begehrt sie uns früher einmal war. Manche von uns lernten dort sogar schwimmen.

Im Herbst ernteten wir Schlehen für Marmeladen und Saft, auch Nüsse wurden gepflückt.

Wir fuhren mit Handwägelchen in den Wald, sammelten ganze Säcke voll „Kipphähnchen" (Tannenzapfen) und banden Reisig zu Bündeln zum Feueranmachen. Jetzt mussten daheim auch das gehauene Holz und die von der Firma Flamm gelieferten Briketts von uns Kindern in den Keller getragen und sauber aufgestapelt werden.

Fielen die ersten Schneeflocken, freuten wir uns auf den Winter mit dem Schlittenfahren. Lag der Schnee ordentlich hoch, öffnete der Landwirt Willi Eis für die ganz Kleinen das Gatter vom „Kappesgarten". Dort konnten sie sicher Schlittenfahren. Wir Größeren aber belegten das „Knüppchen". Von oben ging's im rasanten Tempo abwärts, manch einer landete ungebremst in der eisigen Lenebach. Die „richtig" Großen aber sausten den „Kirchewääsch", die Burgstraße herab, und wir sahen schon mal neidvoll zu, wie sie in „einer Kajer" die Hauptstraße rasant überquerten, um bei SchlosserKoch vorbei ins Märloch zu fahren, sich dann um „Rejine" vorbei durchs Mühlentor in die Kurve legten, bis runter vor den Sprudel sausten und weiter, bis ihre Schlitten endlich ganz von selbst hielten.

Wir „Broteckenkinder" wussten, wann es kalt genug war, denn dann gab's was Besonderes: „Daubach's Weiher" auf Siddingen war zugefroren, eine vorzügliche Eisbahn für uns. Da schreckte uns auch der weite Anmarsch durch „die Held" nicht. Am Weiher gab es sogar eine Bude, die bot heißen Brombeersaft zum Aufwärmen an. Bald nahte die wunderbare Advents- und Weihnachtszeit, mit dem Plätzchenduft, mit all den Heimlichkeiten, den Geschenken, liebevoll im Verborgenen füreinander hergestellt, wozu auch heimlich gelernte Gedichte und Lieder gehörten. Diese Festzeit legte einen besonderen Glanz auf das Jahr für uns Kinder, die im „Brotecken" eine unvergessen schöne Kinderzeit erleben durften. Allmählich sahen wir aber immer mehr Autos auf den Straßen. Militärfahrzeuge. Auch jene der O.T., die am Westwall baute. Jetzt spielten die auf einmal die Hauptrolle auf unserem Spielplatz Straße. Wir Broteckenkinder zogen uns zurück. Der schreckliche Krieg rückte dafür immer näher.