„Rumms, da geht die Pfeife los ..."

Franz-Rudolf Molitor, Mürlenbach

Im milden Schein der Retrospektive erscheinen mir heute meine beiden Großväter wie tragende Säulen einer längst vergangenen Kindheit.

Mein nun schon recht fortgeschrittenes Lebensalter hat die Erinnerungen geschliffen und die wie bei allen Kindern zahlreich vorhandenen kleinen Wunden an Leib und Seele vergessen lassen, grad so wie ein Stein vom Flusse mitgenommen am Ende seines Weges zum glatten, runden Kiesel geworden ist. Man braucht nur ein Weniges im Umgang mit älteren Mitmenschen, um zu spüren, wie mit zunehmendem Alter die Jugendzeit in den eigenen Mittelpunkt zurück fließt. Fast jeder hat seine eigene „gute, alte Zeit", und mit dem Lauf der Jahre wird sie bei all jenen besser, denen das Schicksal nicht all zu arg mitgespielt

hat.

So schweift denn auch mein Denken immer öfter zurück in meine Kindheit, und das nach Rückwärts weisende Türchen meiner Innerlichkeit gibt Zukunft nur recht selten Reiz. Allein die Perspektive eines 8-10jährigen lässt Erwachsene in einer Größe erscheinen, die, gepaart mit einer Erziehung, welche Achtung und Respekt vor jedermann priorisiert und das eigene Bewusstsein erfolgreich klein zu halten vermag, in späteren Jahren nur noch selten bewusst wahrgenommen und bei jeweiligem Bedarf korrigiert wird.

Mein Großvater mütterlicherseits war in seinen mittleren Lebensjahren ein stattlicher Mann. Seinen fünf Kindern war er ein guter Vater und meiner Großmutter ein treuer Ehemann mit - so erzählte es mir meine Mutter - einem Hang zum Zärtlichsein. Sein gelegentlich nicht zu unterdrückender Jähzorn sorgte jedoch bei den eigenen Kindern und Enkeln für nachdrücklichen Respekt.

In seiner Zeit als Soldat des 1. Weltkrieges war er Gefreiter im Großen Hauptquartier in Berlin. Die räumliche Nähe zu den Militärgrößen der deutschen Führung war ihm Eckstein im geistigen Gefüge und prägte seine Sicht, selbst

wenn er sich seines geringen soldatischen Ranges bewusst war. Ungetrübter Patriotismus, genauso jedoch auch ein starkes Interesse an der aktuellen Politik war aus diesem Grunde ein zwar unsichtbarer, gleichwohl aber stetig wahrzunehmender Bestandteil seiner selbst. Wie die meisten Familien meines Heimatdorfes mussten meine Großeltern das tägliche Brot in mühseligem Tagwerk erarbeiten. Qualität und Anzahl der Wiesen, Äcker und Weiden waren gering und reichten gerade, um mit den wenigen Kühen und Schweinen die Familie ein ums andere Jahr zu versorgen. Vorsorge, Aufstockung oder Vermehrung waren Wörter, welche wohl sehr selten zu Munde genommen werden konnten.

Das ständige Fehlen an Notwendigem, von einem gewissen Überfluss ganz zu schweigen, hatte meinen Großvater jedoch erstaunlich pfiffig werden lassen. Aus den wenigen Dingen, die im alten Holzschuppen gelagert wurden, baute er mir einige Male Spielzeug, welches im Kreise der Freunde und Schulkameraden hart verteidigt werden musste. Seine Bemühungen, mir etwas zu geben, wo es eigentlich nichts zu geben gab, habe ich jedoch nicht immer mit der gleichen Liebe zurück gegeben:

Seine größte Leidenschaft galt dem blauen Tabaksdunst, der sich fast ununterbrochen in wechselnder Stärke aus seiner alten Pfeife kräuselte.

Geldnot war sicherlich der wahre Grund dafür, dass „Scheidts Strangtabak" verkohlt wurde. Harter, streng riechender Tabak, welcher in Wurstform in gelben und roten Tüten beim örtlichen Gemischtwarenhändler von uns Kindern gekauft werden musste. Zusammen immer mit einer großen Packung Zündhölzer, denn der Tabak glomm nur ungern; so dass mein Großvater, wenn er zu Hause war und der Ofen brannte, Glutstücke mit der bloßen Hand aus dem Ofen nahm und in die Pfeife steckte.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges hatte sich der Besitzer des örtlichen Auto-Reparaturbetriebes eine Wagenladung voll Treibpulver für Artillerie-Granaten in seinen Garten schütten lassen, denn er hatte von der düngenden Wirkung dieser schwarzen Stäbchen gehört. Ob das Treibpulver seinen Radieschen und der Petersilie zu verstärktem Wuchs verholfen hat, weiß ich nicht. Sicher ist jedoch, dass viele Gleichaltrige und ich über Jahre hinweg Spaß daran hatten, was alles mit diesem „Dünger" anzustellen war.

Wie Klicker-Spielen, Rollschuh-Fahren und „Cowboy und Indianer", so hatte auch das „Pulversuchen" mit den stets darauf folgenden

„Dummheiten" seinen festen Platz im Jahreskreis des Spielens. Dabei hatte die seinerzeitige Fülle jener Wagenladung für ständige Verfügbarkeit gesorgt.

Eines Tages stellte ich durch puren Zufall fest, dass der Durchmesser des Pulverstäbchens sich in unheilvoller Übereinstimmung mit dem des Rauchkanals der großväterlichen Pfeife befand. Dieser Harmonie nicht Erfüllung zu gewähren, hätte mich wohl ebenso lebenslang verfolgt wie die Erinnerung an die Auswirkungen, welche die Verbindung von Pulver, Pfeife und Feuer auf meinen Großvater - und auf mich hatten.

Dem heimlich von mir beobachteten Anzünden der Pfeife folgte kurz darauf ein Miniatur-Vulkanausbruch der Marke „Krakatau" und eine Stichflamme muss sich wohl den Weg ins Freie durch den Pfeifenstiel gesucht haben und nebenbei noch Großvaters oben erwähnten Jähzorn entzündet haben. Die damals vorhandene Leibesfülle des Erbosten, das Überraschungsmoment und meine Einsicht in den unvermeidlichen Lauf der Dinge ließen mich die Küchentür vor ihm erreichen...

Und da sein Zorn nur ein jäher war, konnte ich mich schon nach einigen Tagen wieder ins geliebte Großelternhaus wagen, wo nur Tadel und anschließende Versöhnung warteten.

Mein Großvater starb als ein Mann, der den Tod meiner Großmutter bis zu seinem eigenen Ende betrauerte. Das Grab habe ich lange Jahre an manch heißem Sommertag gegossen und über diese Äußerlichkeit hinaus habe ich das gute Gefühl, ihm mit meinen Erinnerungen mehr zu geben, als das Wasser für die Blumen auf seinem Grab.