Alte Zeiten - Neue Freunde

Auf der Suche nach meinem Westwall-Quartier in Wiesbaum

Konrad Nix, Planig/Bad Kreuznach

Es fällt mir schwer, die Gefühle zu beschreiben, die mich an einem schönen Oktobertag vor vier Jahren bewegten, als ich nach fast 60 Jahren wieder vor unserem Quartier in Wiesbaum stand, das mir im November/Dezember 1944 mehr als eine Unterkunft bedeutet hat. In dieser schweren Zeit war es für mich Heim und ,Geheichnis1 zugleich. Deshalb habe ich seit Jahren immer wieder Hillesheim und Wiesbaum auf den Spuren der Vergangenheit besucht. Leider ohne Erfolg! Ich bin aber auch hierher gekommen, weil mich die Eifel als Landschaft seit dieser Zeit nicht mehr losgelassen hat. Den strahlend blauen Winterhimmel über den verschneiten Eifelhöhen werde ich nie vergessen. Genau so wenig wie die häufigen Wetterwechsel. Die Schanzarbeiten im abrupten Übergang vom Nieselregen, Graupelschauer, Eisregen in Schnee verlangten uns 15-Jährigen körperlich alles ab. Solche Wetterkapriolen waren für uns Rheinhessen absolut unbekannt. Die Ereignisse von damals laufen auch heute noch wie ein Film vor meinen Augen ab. Am Abend des 18. November stand ich mit zwei weiteren Planigern und vielen anderen HJlern aus dem Bann Bingen auf dem Binger Bahnhof und wartete auf den Einsatzbefehl. Ein Planiger HJ-Führer informierte uns im Befehlston: „Kameraden! Euer Ziel ist die Schneeeifel!" Darunter konnte ich mir genau so wenig vorstellen, wie wenn er uns in die Walachei' geschickt hätte. Nach einer Fahrt mit einem langen Aufenthalt in Koblenz und im Eisenbahntunnel von Rech/Ahr wegen ständiger Tieffliegerangriffe kamen wir am 19. Nov. nachts in Hillesheim an. In der Umgebung von Hillesheim hoben wir etwa acht Tage lang Panzerdeckungslöcher und Schützengräben aus. Dann kam der Befehl: „Neues Quartier Wiesbaum!" Im Unterschied zum Hillesheimer Quartier kann ich mich an das Wiesbaumer auch nach 60 Jahren noch so gut erinnern, als wäre

es heute. Wir waren mit 12 HJlern aus dem Kreis Bingen in einem großen Bauernhaus untergebracht. Vom Hof aus kamen wir in den Hausflur, links davon war unser großes Quartier. Der Raum ging durch die ganze Breite des Hauses, von der Straßenseite bis zum Hof. Rechts und links an den Wänden lagen immer sechs Mann. Wir hatten uns als Auflage Stroh aus der Scheune geholt. Es stand ein großer Tisch im Raum mit sechs bis acht Stühlen. Deshalb konnten nie alle zusammen am Tisch sitzen, und wir mussten immer

in zwei Schichten essen. Mitten im Raum stand ein großer Kanonenofen, den wir anheizten, wenn wir vom Einsatz zurückkamen. Drum herum hingen immer die feuchten Kleider auf Stühlen oder Leinen zum Trocknen. Im ersten Stock wohnte eine junge Mutter mit ihrem Ba-

Teile des HJ-Fanfarenzuges Planig, von links: H.-W. Merkelbach, W. Gaul f, W. Arend f,

H. Hattemer f, Konrad Nix Foto: privat

by. Ihr Mann war im Krieg. Jeden Tag kam ein Mädchen aus dem Dorf zu ihr, um ihr zu helfen. Im Hof lag der große Misthaufen, dann waren da noch das Plumpsklo und eine Pumpe. Auf der linken Seite des Hofes befand sich der Stall. Rechts vom Hof ging es in das Nachbarhaus. Darin hausten z.B. die Gensinger HJler. Morgens standen wir noch im Dunklen auf. Nach dem Waschen und Frühstück war um acht Uhr Antreten und Abmarsch an die Einsatzstelle. Nachmittags um drei marschierten wir ohne Tritt die etwa drei km von Birgel wieder ins Quartier zurück. Dort haben wir uns zuerst etwas erholt, dann ging es zum Essenfassen. Bis alle mit dem Abendbrot fertig waren, war es schon bald acht. Danach legten sich die einen schon zum Schlafen hin, die anderen haben noch um den Tisch gesessen und erzählt. Nach dem Abendessen wurde das Quartier nicht mehr verlassen. Die HJ-Streife sorgte dafür, dass sich keiner ohne Auftrag im Dorf herumtrieb.

Von den vielen Eindrücken haftet ein Tag besonders in der Erinnerung. Es war Anfang Dezember. Wir waren nachmittags nach dem Schanzen bei Birgel auf dem Weg ins Quartier. Das Wetter war wieder einmal umgeschlagen. Es hatte vorher kräftig geschneit. Jetzt war ein wunderbar klarer, sehr kalter Winternachmittag. Einer der herrlichen Tage, die ich nie vergessen werde. Der Schnee lag mehr als knietief. Dazwischen gab es viele Schneewehen von einem Meter und höher. Wir hatten den Wald verlassen. Die Straße nach Wiesbaum war aber nicht, wie heute üblich, geräumt. Wir stapften also wie die Störche durch den tiefen Schnee. Plötzlich Rufe: „Tiefflieger! Volle Deckung!" Wir, in unseren fast schwarzen HJ-Uniformen, in der glänzenden weißen Schneefläche! Wohin wir auch wollten - keine Deckung! Gott sei Dank, lief neben der Straße ein Rinnsal in einem tiefen Graben! Das Dröhnen der Motoren kam schnell näher, drei ,Jabos'. Wir sprangen noch rechtzeitig in den nassen Gra-

ben. Die Jabos haben uns niedrig wie Heuhüpfer über die Bäume angeflogen und beschossen. Es handelte sich anscheinend aber um einen Scheinangriff, weil es keine Einschüsse gab und keiner getroffen wurde. Zwei flogen direkt weiter, der dritte kehrte in einer Schleife zurück und verschwand ganz niedrig über dem entfernten Wald. Wir lagen noch einige Zeit platt im Wasser. Plötzlich hörten wir eine Explosion und sahen danach einen Feuerball über dem Wald. Der Jäger muss wohl die Bäume gestreift haben und ist ein paar km von uns abgestürzt. Auf dem Rückweg nach Wiesbaum froren uns die Kleider bei der Eiseskälte schon nach einer viertel Stunde am Leib fest. Während des ganzen Rückwegs haben wir in der Ferne den Qualm des brennenden Flugzeugs gesehen und die explodierende Munition gehört. Später haben wir erfahren, der Propeller soll in der Erde gesteckt haben wie ein Kreuz, und dort soll auch der Pilot beerdigt worden sein.1) Im Quartier angekommen, haben wir sofort den Kanonenofen angefeuert. Wir mussten unsere nassen, vereisten Kleider bis zum nächsten Morgen wieder trocknen. Wir haben also richtig eingeheizt. Vom Ofen ging ein Rohr durch die Decke ins obere Zimmer. Wir haben immer wieder nachgelegt und freuten uns, dass die Kleider gut trockneten. Plötzlich nachts Hilferufe! Die junge Frau kam zu uns herunter gerannt und schrie: „In meinem Schlafzimmer brennt der Fußboden!" Das Ofenrohr war so erhitzt, dass es den Fußboden in Brand gesetzt hatte. Wir machten sofort alles mobil, auch die HJler aus dem Nebenhaus halfen. Wir bildeten eine Eimerkette bis zur Pumpe im Hof. So war der Brand nach kurzer Zeit gelöscht. Vor vier Jahren erzählte ich die ganzen Ereignisse einem alten Bekannten aus Planig, der seit vielen Jahren im Kreis Daun lebt. Als ich erwähnte, dass ich seit Jahren vergeblich auf der Suche nach dem Wiesbaumer Quartier sei, sagte er: „Ich kenne den Ortsbürgermeister von Wiesbaum; der wird dir sicher behilflich sein." Schon nach ein paar Tagen erhielt ich seinen Anruf mit einem Termin im Bistro Courage in Wiesbaum. Dort erwarteten mich Jakob Blum, Ortsbürgermeister, und Klaus Jakoby, 1. Beigeordneter. Nach meiner Quartierbeschreibung hatten sie schon eine konkrete Vermutung. Sie wurde Gewissheit beim Besuch der Schwägerin des Mäd-

chens, das 1944 bei der Bäuerin ausgeholfen hatte. Sie wies uns zum Anwesen Mastiaux in der Dorfmitte an der Straße nach Birgel. Als ich nach so vielen Jahren unser Quartier endlich wieder gefunden hatte, wich die Spannung einer unbeschreiblichen Bewegung und großer Freude. Das große Haus war zu der Zeit unbewohnt, und ich durfte mich überall umsehen. Im Haus hatte sich kaum etwas verändert, die ganzen Räumlichkeiten und das Umfeld waren mir sofort wieder vertraut, als läge alles nur ein paar Tage zurück. Von den beiden Herren erfuhr ich auch den Namen des jetzigen Besitzers, Herbert Mastiaux, der Neffe der jungen Mutter von damals. Ich habe Herrn Mastiaux, Mitarbeiter der VG Hillesheim, getroffen und seit unserer ersten Begegnung hat sich eine Freundschaft entwickelt. Seit her besuchen sich unsere Familien gegenseitig. Es erfüllt mich mit großer Freude, dass mich Herbert Mastiaux, der erst nach dem Krieg geboren wurde, wie einen großen Bruder angenommen hat. Meine Gefühle für Wiesbaum möchte ich mit ein paar Versen ausdrücken.

Anmerkung:

1) Der geschilderte Absturz wurde von Johann Meyer aus Berndorf dokumentiert. Absturztag: 4.1.12.1944, nachmittags; Maschinentyp: P47 ,Thunderbolt'

Name des Piloten: James Stover; vermutliche Absturzursache:

Luftkampf oder Flakbeschuss

Danke Wiesbaum

Ich kam zu dir mit 15 Jahr', als Krieg und Chaos um uns war. Du nahmst mich auf in deiner Güte, gabst mir ein Haus, das mich behütet'. Du warst bei mir in Angst und Not, gabst mir sogar mein täglich Brot. Nach dem Krieg besucht' ich dich, war dreimal hier und fand es nicht; Das Haus, wo ich mit 15 war. Jakob Blum und Klaus Jakoby boten ihre Hilfe an, und sie suchten, bis sie fanden, Haus und Hof und Frau und Mann. Allen möchte ich danke sagen, danke Wiesbaum, lieber Ort. Ich bin zu dir als Bub gekommen, geh' heut' von guten Freunden fort. Danke Wiesbaum! Anmerkung:

Mein besonderer Dank gilt Jakob Blum, Klaus Jakoby und Wolfgang Merkelbach, der den Kontakt herstellte.